Die angespannte politische Lage in Palästina und Israel fand in der militärischen Eskalation der letzten Wochen einen neuerlichen Höhepunkt und trotz des „Waffenstillstands“ scheint sie noch nicht überstanden. Leah R.* (Name geändert), israelische Koordinatorin unserer AllGender-Arbeit, beschreibt in diesem Bericht die die Hintergründe und Zusammenhänge der Ereignisse. Eine gekürzte Fassung des Texts finden Sie auch in unseren Sommerinformationen.
(Text: Leah R.) Angeblich waren die seit Wochen zunehmenden Spannungen und die Gewalt zwischen Israelis und den Palästinenser*innen in Jerusalem der Auslöser für die militärische Eskalation. Allerdings lassen sich sowohl die Ereignisse in Jerusalem als auch die Aktivitäten der Hamas nicht von der Innenpolitik – der Regierungsbildung in Israel und dem Kampf um die öffentliche Meinung auf den palästinensischen Straßen – trennen. Auch das gemeinsame Interesse rechter Parteien in Israel und der Hamas, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern spielte mit Sicherheit eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Was ist also passiert? Im Ramadan versammeln sich traditionell jeden Abend zum Fastenende und besonders während der Iftar-Feierlichkeiten Zehntausende von Muslim*innen am Nablus-Tor (Bab al-Amud) in Jerusalem. In diesem Jahr fand während des Fastenmonats allerdings auch der sogenannte „Jerusalemtag“ statt: traditionell feiern rechtsextreme Jugendliche den Tag der „Befreiung Jerusalems“ mit Massenaufmärschen in der Altstadt. Diese Aufmärsche führen zumeist zu Gewalt gegen Palästinenser*innen; die Märsche wurden dieses Jahr von der Regierung stark eingeschränkt, um Ausschreitungen zu verhindern. Außerdem wurden in diesem Monat erneut palästinensische Bewohner*innen aus dem Jerusalemer Viertel Sheikh Jarrah vertrieben, um an ihrer Stelle jüdische Familien anzusiedeln. Die Räumungen sind Teil der Siedlungsexpansion in Ost-Jerusalem, vorangetrieben von bereits seit Jahrzehnten aktiven reichen Siedlerverbänden – mit dem Ziel, die Stadt unter die Kontrolle nationalistischer Juden und Jüdinnen zu bringen. Außerdem erlaubt das israelische Gesetz Juden und Jüdinnen, Land und Gebäude zurückzufordern, die vor 1948 in jüdischem Besitz waren, hindert aber gleichzeitig Palästinenser*innen daran, Besitzansprüche aus dem gleichen Zeitraum geltend zu machen. Die extrem rechten Gruppen auf der israelischen Seite fordern einerseits die Ausweitung der Kontrolle im Westjordanland und andererseits die Einschränkung der Rechte der palästinensischen Staatsbürger*innen Israels. Eine Forderung, die ihren Ausdruck unter anderem im 2018 erlassenen Staatsangehörigkeitsgesetz gefunden hat, wonach im jüdischen Staat Juden und Jüdinnen an erster Stelle stehen und mehr Rechte genießen.
Als die Polizei die Versammlungen von Muslim*innen auf dem Tempelberg und am Nablus-Tor einschränkte und Proteste gegen diese Einschränkungen gewaltsam auflöste, schlossen sich den Protesten gegen die Räumung von Sheikh Jarrah auch palästinensische Bürger*innen an, die zuvor weniger an solchen Protesten beteiligt gewesen waren. Nach Jahren einer israelischen Politik, die darauf abzielte, die palästinensische Gesellschaft zu spalten, scheint es, dass die Identifikation der Palästinenser*innen in Israel und im Westjordanland mit dem Leiden der Palästinenser*innen in Ost-Jerusalem und Gaza und die gemeinsame Angst um die Zukunft der Al-Aqsa-Moschee tatsächlich dazu beigetragen haben, die Bindungen zwischen den Palästinenser*innen zu stärken. (…)
Die Spannungen, die seit Jahren unter der Oberfläche schwelen, brechen immer wieder in Gewalt aus, meist – und so auch diesmal – von jungen Leuten, die von zynischen Politiker*innen angestachelt werden oder die einfach ihrer Frustration über ihre soziale und ökonomische Situation Ausdruck verleihen. Die psychologischen Auswirkungen dieser Ereignisse sind weitaus größer als der Schaden an Menschenleben und Eigentum: sie zerbrechen die Bande, die immer wieder zwischen Juden und Jüdinnen und Palästinenser*innen, die Bürger*innen Israels sind, geschmiedet werden. Das gilt auch für die Konsequenzen des Raketenbeschusses: Obwohl er verhältnismäßig wenige Tote zur Folge hatte, verstärkte er das Gefühl der existentiellen Angst in der jüdischen Gesellschaft in Israel, eine Angst, die extremen Positionen den Boden bereitet.
Mehrere Protestwellen haben in den letzten Wochen die Straßen Israels durchzogen. Eine Welle von Protesten in Solidarität mit den Palästinenser*innen in Jerusalem und Gaza, an denen neben palästinensischen Bürger*innen Israels auch etliche Juden und Jüdinnen teilnahmen. Diese Demonstrationen wurden von massiver polizeilicher Repression begleitet. Gleichzeitig gab es eine rechtsgerichtete jüdische Protestwelle, die eine „härtere Hand“ gegen die Hamas und die „arabischen Randalierer in Israel“ forderte. Die dritte Welle waren Juden und Jüdinnen und Araber*innen, die, meistens gemeinsam, ein Ende der militärischen Operation in Gaza, der Räumungen in Sheikh Jarrah und der Polizeigewalt forderten und sich für ein gemeinsames Leben auf der Grundlage von Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzten.
In der nunmehr abgewählten israelischen Regierung schienen Fragen nach Frieden und das Ende der Besatzung weiter entfernt denn je. Kann die neue „Regierung des Wandels“, die Parteien aus der Rechten, der Mitte und der Linken, darunter – zum ersten Mal – eine arabische Partei, vereint, diese Themen wieder auf die Tagesordnung bringen?