Viele alte Freunde sind keine Freunde mehr
Rotem R. (*Name geändert) ist 18 Jahre alt und wuchs in einem sehr konservativen Elternhaus in Israel auf, in dem Worte wie „Besatzung“, „Palästinenser“ oder „Frieden“ nicht zu hören waren. Heute nimmt sie an palästinensischen Demonstrationen in B’lin, in der Westbank, teil. Khalil Toama erzählte sie, wie sie sich entschloss, diese zu unterstützen.
Rotem R.: Meine Familie ist sehr konservativ und politisch rechts. Meine Eltern kamen in den 90er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion. Als ich klein war, sagte mein Vater, dass es in Ordnung sei, ein palästinensisches Kind zu töten, denn wenn es groß wäre, würde es unsere jüdischen Brüder und Schwestern umbringen. Wie jedes Kind habe ich erstmal geglaubt, was mir meine Eltern erzählten. Aber vor zwei oder drei Jahren fing ich an, mich dafür zu interessieren, was in unserer Region passiert: Wo leben die Palästinenser, warum greifen sie uns an? Was tun wir ihnen an?
K.T.: Was hat dich dazu motiviert? Hast du in der Schule darüber gehört?
R.R.: Nein, in der Schule wurde darüber gar nicht gesprochen. Ich war damals Vegetarierin und habe Tiere immer schon geliebt. In Tel Aviv konnte ich Essen für Vegetarier kaufen und dort hatte ich das gute Gefühl, diese Blase, in der ich lebte, zu verlassen: meine Eltern, meine Schule, meine Freunde, diese Zeitungen, die alle eine politisch eher rechte Meinung vertraten. Ich hörte das erste Mal von Leuten, die nicht zur Armee gehen wollen. Sie sprachen über Palästinenser und die Besatzung und über viele Dinge, die mir völlig neu waren. Ich fing an, nach Informationen zu suchen, aber es blieben viele offene Fragen.
Ereignisse wurden so unterschiedlich dargestellt: eine Zeitung schrieb, ein Palästinenser sei umgebracht worden. Eine andere beschrieb, der Israeli sei angegriffen worden und habe nur in Notwehr gehandelt. Ich wusste nicht, was und wem ich glauben sollte, und habe dann beschlossen, nach B’lin zu fahren, um die Wahrheit zu erfahren.
Linke Freunde erzählten mir davon. Zu dieser Zeit definierte ich mich als Linke. Ich hatte den Eindruck, das Gefühl, links sein ist das Richtige. Aber ich kann das inhaltlich gar nicht richtig definieren: Was ist „links“?
In B’lin schockierte mich allein schon die Umgebung dort. Ich komme aus einem Land, in dem Hochhäuser ganze Landschaften dominieren. Dort gibt es nur kleine Häuser, die Straßen sind nicht asphaltiert und schmutzig. Es sieht aus wie in einem Elendsviertel.
Ich musste von dem Tränengas, das die Soldaten einsetzten, weinen und habe auch gesehen, wie sie es auch auf Palästinenser, die z.B. im Rollstuhl saßen, warfen. Ich habe auch andere Dinge gesehen, die nicht in Ordnung sind, und das Vorgehen der „Verteidigungsarmee“ schockierte mich.
Ich habe dort das erste Mal in meinem Leben Palästinenser gesehen. Aber von diesem inneren Bild, dass sie uns schaden wollen, konnte ich mich nicht direkt befreien. Ich hatte es einfach zu oft gehört.
Aber ich lernte eben auch das erste Mal sehr nette Palästinenser kennen, die ein großes Herz haben. Als die Demo vorbei war, haben wir noch zusammengesessen. Plötzlich fingen alle an zu lachen und Witze zu erzählen, das hatte ich nicht erwartet. Die Palästinenser, die ich dort kennenlernte, schloss ich direkt in mein Herz. Und ich erlebte noch etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Wenn ich während der Demo Probleme bekam, z.B. in eine Sackgasse flüchtete, kam immer sofort jemand, um mir zu helfen. Das kenne ich von anderen Demos nicht. Die Palästinenser wissen sehr genau, wie man sich verhalten sollte, wenn man z.B. mit Tränengas beschossen wird.
K.T.: Wie hat sich dein Leben mit deiner Familie verändert?
R.R.: Ich lebe immer noch bei meiner Familie, aber dass ich seit einem halben Jahr jeden Freitag nach B’lin fahre, habe ich ihnen nicht erzählt und irgendwie war es egal. Erst als ich beschloss, nicht zur Armee zu gehen, führte das zu sehr großen Spannungen. Mein Vater sagte zu mir: „Ich habe Dich zur Welt gebracht, damit Du mein Leben irgendwann verteidigen kannst.“ Natürlich lehne ich diese Haltung ab. Aber ich verstehe, was ihn motiviert, so etwas zu sagen.
Ein paar Tage lang redete er gar nicht mit mir, meine Eltern hofften wohl, dass ich meine Meinung ändern würde. Ich sprach zuerst nicht über die Gründe meiner Entscheidung. Ich sagte ihnen nur, die gesamte Lage im Nahen Osten gehe mir auf die Nerven und damit wolle ich nichts zu tun haben. Ich dachte, das sei akzeptabler als wegen des palästinensischen Volkes nicht zur Armee zu gehen.
Viele meiner alten Freunde sind keine Freunde mehr. Mit denen, zu denen ich noch Kontakt habe, rede ich nicht darüber, um Spannungen zu vermeiden. Sie finden schon meinen veganen Lebensstil und meine feministische Einstellung verrückt.
K.T.: Wie hast du es geschafft den Militärdienst zu verweigern? In Israel ist dieser ja auch für Frauen verpflichtend.
R.R.: Ich bin zu einem Psychiater gegangen und habe ihm offen gesagt, dass ich nicht in der Lage bin, als Soldatin zu dienen. Ein Militärpsychiater befreite mich dann vom Dienst. Ich habe schon ein wenig geschauspielert, aber weil ich eine Frau bin, betrachteten sie es nicht als sehr dramatisch, dass ich nicht zur Armee gehe. Die Organisation ‚New Profile‘ beriet mich. Sie erklärten mir, welche Fragen ich zu erwarten hätte und was ich antworten soll. So konnte ich mich darauf vorbereiten und es hat geklappt. Ich habe Glück gehabt.
K.T.: Welches Profil hast du bekommen?
R.R.: Das Profil 21, wegen gesundheitlicher, aber nicht wegen psychischer Gründe. Ich werde später also keine Probleme bekommen, wenn ich mich irgendwo bewerbe. Ich kann einen zweijährigen Zivildienst machen. Man hat in der Zeit ähnliche Privilegien wie als Soldatin und wird dafür nicht schräg angeguckt.
K.T.: Versuchst du, andere Leute zu überzeugen, nicht zur Armee zu gehen?
R.R.: Anfangs vertrat ich diese Meinung auch auf Facebook oder Twitter sehr öffentlich. Aber das hat viel Hass produziert. Jemand schrieb sogar an den Tierschutzverein, bei dem ich arbeite, man solle mich entlassen, weil ich radikal sei. Ich versuche jetzt immer noch, andere zu überzeugen, tue dies aber nicht mehr so öffentlich. Ja, ich bin vorsichtiger geworden, weil ich nicht diesen Hass auf mich ziehen und mir Schaden zufügen will. Aber ich gehe immer noch zu Demos und nehme in Kauf, von der Polizei angegriffen zu werden. Ich versuche, keine Schläge von ihnen zu bekommen.
K.T.: Wie bewertest du die Begegnung hier in Walberberg?
R.R.: Mich brachte es gefühlsmäßig sehr durcheinander, vieles ist so widersprüchlich und ich habe hier Höhen und Tiefen durchlebt. Es war hart, zu hören, dass andere Israelis meinen, ihrem Land gedient zu haben, indem sie auf Palästinenser geschossen oder sie inhaftiert haben und stolz darauf sind. Einer aus meiner Gruppe erzählte, dass er in B’lin im Einsatz war.
Wenn ich an die weinenden Kinder und das Tränengas denke, dann erscheinen mir die Soldaten als sehr brutal. Und hier treffe ich sie und habe den Eindruck, sie sind keine Monster, sondern Menschen. Manche sind mir wirklich sympathisch! Wenn man sie als Soldaten sieht, denkt man nicht daran, dass sie 18-jährige Kinder sind, die einen Befehl ausführen.
Die Palästinenser sagen uns, dass wir Israel verlassen sollen, weil es nicht unser Land sei. Das ist schwierig für mich, weil ich ihre Seite ja eigentlich verteidigen will. Ich will aber dieses Land nicht verlassen und fühle mich gar nicht richtig angesprochen. Und trotzdem verstehe ich natürlich, warum sie das sagen, nach allem, was wir ihnen angetan haben. Wahrscheinlich wissen sie, dass wir nicht gehen werden, weil wir so stark sind. Und deshalb können sie es sich leisten, so etwas zu sagen. Natürlich gibt es hier auch Palästinenser mit einer anderen Meinung und einige haben unser Recht, in Israel zu bleiben, auch anerkannt.
K.T.: War es wichtig für dich hier zu sein, mit diesen Widersprüchen?
R.R.: Ja, ich habe viel gelernt, z.B. über die Geschichte des palästinensischen Volkes. Bei den Demos in B‘lin reden wir auch miteinander, aber eher über die Zucchini, die im Garten wachsen und nicht über den Konflikt. Wenn ich bei jemandem zu Hause zu Gast bin, zögere ich natürlich, meine Meinung offen zu sagen, das könnte unangenehm sein. Aber hier kommen alle, um zu sagen, was sie denken. Die Atmosphäre ist sehr offen und ungezwungen, das hilft besser, sich zu verstehen. Hier sind Mediatoren, die uns helfen und eine Richtung vorgeben, das ist etwas anderes, als sich zufällig zu treffen. Ich glaube, es wird uns dazu bewegen, noch viel aktiver zu werden. Wenn wir in Zukunft hören, dass ein Palästinenser getötet oder ungerecht behandelt wurde, dann geht es nicht mehr um eine anonyme Person. Dann werden wir die Gesichter der Palästinenser hier vor uns sehen.