Für unseren Jahresbericht 2021 schrieb eine unserer Partner*innen diesen Text über die politischen Entwicklungen in Serbien. Ihre Hoffnungen für die Präsidentschaftswahlen im April wurden enttäuscht, ihr Text ist also aktueller denn je.

(Text: Jasmina Borić) Wir begannen das Jahr 2021 unter demselben autokratischen, diebischen und korrupten Regime, das seit 2012 besteht, als die Serbische Fortschrittspartei (Anm. d. Red.: Diese Partei ist dem rechtskonservativen, nationalistischen Spektrum zuzuordnen) geführt von Aleksandar Vucic an die Macht kam. Dennoch ist die politische Situation in Serbien 2021 ganz anders als im Vorjahr. Die Regierung trat mit dem Versprechen an, Korruption, Vetternwirtschaft und Veruntreuung zu bekämpfen und bessere Gehälter und Renten – kurz ein besseres Leben für alle – zu ermöglichen, hat aber nichts davon verwirklicht. Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder haben stattdessen zugenommen. Zudem wurden Mechanismen, die diese zumindest teilweise kontrollierten, ausgesetzt. Nach dem, was wir als Bürger*innen aus den noch nicht von der Regierung kontrollierten Medien erfahren, lebt das Regime von hohen Auslandsanleihen, die das Land in eine Schuldenfalle treiben können. In Serbien gibt es zwei Wirklichkeiten: auf der einen Seite die der Durchschnittsbürger*innen, die kaum von ihren Gehältern leben können. Auf der anderen Seite die „Wirklichkeit“, die uns von den regimetreuen Medien im Fernsehen präsentiert wird: der Lebensstandard, die Luft, das Wasser, die saubere Umwelt, alles ist einfach großartig. Die meisten Menschen sehen nur dieses Bild, da ihr Geld nicht für Kabelfernsehen oder Internetanschlüsse reicht. Gerade den alten Leuten mit ihren sehr niedrigen Renten geht das so. Und genau auf diese Rentner*innen zielt die Propaganda der Regierung ab, da sie bisher ihre treuesten Wähler*innen stellten.

Aber „nichts hält ewig“, wie ein Sprichwort sagt und wir hoffen, dass das auch für dieses Regime gilt. Die dicken Mauern, mit denen sich Regierungen umgeben, beginnen irgendwann zu bröckeln, und ich denke in Serbien zeigten die Ereignisse im vergangenen Herbst die ersten Risse in dieser Mauer.

In den letzten Jahren traten Umweltfragen immer mehr ins öffentliche Bewusstsein: Sie werden nun ernsthaft diskutiert und Expert*innen präsentieren beängstigende Daten über Umweltzerstörung, belastetes Wasser und die verschmutzte Luft, die wir einatmen, besonders im Winter.

Die lange Reihe der Proteste begann mit der Einrichtung kleiner Wasserkraftwerke an verschiedenen Flüssen in Serbien, um „saubere Energie“ zu gewinnen. Aber die traurige Wahrheit war, dass diese Minikraftwerke in allen Bächen und Flüssen das natürliche Leben zerstörten.

Einer der ärmsten Landesteile Serbiens, in dem die hauptsächlich ältere Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt, war besonders betroffen. Zu diesem Gebiet im Südosten gehört ein großer Teil des Gebirges Stara Planina (dt. Balkangebirge). Die Minikraftwerke wurden fast heimlich in ganz Serbien gebaut, wir hörten Gerüchte, dass dieser oder jener kleine Fluss verschwand, aber es wurde kaum darüber berichtet. Das änderte sich schlagartig, als solche Kraftwerke im Balkangebirge gebaut werden sollten. Zu unser aller Überraschung standen die älteren Einwohner*innen auf und begannen zu protestieren. Am Anfang trafen sie sich zu Versammlungen, bei denen die Leute nur Parolen riefen, aber mit der Zeit entwickelte sich so etwas wie ein Guerillakrieg. Großväter und Großmütter ergriffen Schaufeln, Äxte und Pfosten, sie zerstörten Rohre, blockierten Straßen und brachten die Bauarbeiten ins Stocken. Sie inspirierten den Rest der Gesellschaft; aus ihrer Gruppe kommen heute bekannte Sprecher*innen der serbischen Umweltbewegung wie Aleksandar Jovanovic Cuta. Er ist einer der Gründer*innen des „Environmental Uprising Movement“ und inzwischen bei jedem Protest, der sich um Umweltfragen dreht, dabei. Das „Environmental Uprising Movement“ ist nicht mit der Politik oder Parteien verbunden, ein Grund für seine Popularität. Seit dem Aufstieg von Cuta, der in der Öffentlichkeit sehr kompetent auftritt, stehen Umweltfragen überall auf der Tagesordnung: In der Vojvodina sind 70% des Trinkwassers stark belastet, die großen Städte ersticken im Müll, die Luftverschmutzung ist eine der höchsten weltweit, das meiste Abwasser läuft ungeklärt in die Flüsse. In Serbien wird nur sehr wenig saubere Energie produziert, die Bevölkerung heizt mit Kohle der schlechtesten Qualität, die das Klima zerstört – ein Teufelskreis aus Armut und Umweltverschmutzung.

In dieser angespannten Situation wurde plötzlich bekannt, dass der australisch-britische Konzern Rio Tinto in Serbien nach Lithiumvorkommen sucht und große Mengen abbaubares Erz gefunden hat. Umweltaktivist*innen informierten über die vergifteten und weitgehend zerstörten Landschaften, die überall zurückgeblieben waren, wo der Konzern Erz gefördert hatte. Die Regierung verteidigte Rio Tinto als den Konzern, der dem Land Millionen einbringen werde.

Die Gegend, in der Rio Tinto seine Mine bauen wollte, gehört zu den fruchtbarsten Gebieten des Landes in der Nähe der Drina. Eine Reihe von Umweltorganisationen wandte sich öffentlich gegen potentielle Minenprojekte und weitere Probebohrungen in dieser Gegend. Die Regierung reagierte kaum darauf und Rio Tinto startete eine Kampagne, um die serbische Bevölkerung für sich zu gewinnen.

Für uns alle ist klar, dass es in der Regierung Politiker*innen gibt, die Geld von Rio Tinto erhalten und sich deswegen taub und blind stellen. Die Umweltbewegung warnte davor, dass die Regierung darüber nachdenke, Gesetze zum Nutzen von Rio Tinto zu ändern um alles legal und demokratisch erscheinen zu lassen. Langsam sickerte durch, das Rio Tinto nach der Untersuchung der genommenen Proben dazu übergehen wollte, Land zu kaufen um mit dem Erzabbau zu beginnen. Die Regierung unterstützte diese Pläne durch den Bau einer Straße zur zukünftigen Mine. Sie legte Stromleitungen und änderte die lokalen Bebauungspläne, um die Mine zu ermöglichen. Daraufhin begannen immer mehr Menschen, gegen diese Pläne und gegen Rio Tinto insgesamt zu kämpfen. Nach einer großen Protestaktion kündigte Präsident Vucic an, dass in einem Referendum über die Mine entschieden werden würde. (…)

Fast zeitgleich änderte die Regierung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Gesetz, welches die Bedingungen für Volksabstimmungen festlegt. Zwar wurde der Zeitraum zum Sammeln der für ein Referendum benötigten 30.000 Unterschriften von vorher beinahe unmöglich zu erreichenden sieben Tagen auf drei Monate verlängert, jedoch müssen nun alle Unterschriften notariell beglaubigt werden. Jede notarielle Beglaubigung kostet drei Euro und in vielen Orten gibt es gar keine Behörde, die Unterschriften beglaubigen kann. Die Bedingungen für die Umsetzung eines Referendums wurden also extrem erschwert und Savo Manojlovic, Direktor der Online-Plattform für Petitionen „GoChange“, auf welcher bereits viele Unterschriften gesammelt worden waren, kritisierte, dass das neue Gesetz explizit auf die Bedürfnisse von Rio Tinto zugeschnitten wurde. (…)

Gleichzeitig verabschiedete das Parlament ein Gesetz zur Enteignung. Es erlaubt der Regierung, in Notfällen Privateigentum als „von öffentlichem Interesse“ zu deklarieren und zu enteignen. Inzwischen ist ziemlich eindeutig, dass dieses Gesetz für Rio Tinto eingebracht wurde. Der Konzern konnte nur 140 der benötigten 600 Hektar für die Mine kaufen, da einige Leute ihr Land um keinen Preis verkaufen wollten. Das neue Gesetz würde erlauben, dieses Land zu enteignen und dem Konzern zu überlassen.

Dies war das Signal für die Bevölkerung, auf die Straße zu gehen, um dieses Gesetz zu verhindern. In den ersten Wochen blockierte sie eine Stunde lang den Verkehr und forderte Vucic auf, das bereits verabschiedete Gesetz nicht zu unterzeichnen, damit es nicht rechtskräftig würde.

Ich glaube, Vucic und die Serbische Fortschrittspartei waren überrascht vom Ausmaß der Proteste. Auf Fragen von Journalist*innen, ob er das Gesetz unterzeichnet hätte, antwortete er seinerzeit ausweichend: „Bis jetzt noch nicht, neue Rechtsgutachten würden eingeholt, man würde sehen, wahrscheinlich im November.“ Die Blockaden gingen weiter und es kamen viel mehr Menschen, als wir erwartet hatten. Sogar die Autobahn wurde für zwei Stunden blockiert. Die Regierung hatte tatsächlich Angst vor den Leuten und Vucic überraschte uns mit der Aussage, es haben sich einige formale Fehler im Gesetz gefunden, weshalb die Regierung die Forderungen der Demonstrant*innen übernehmen werde: Das Enteignungsgesetz werde zurückgezogen und alle Forderungen der Demonstrierenden zum Referendumsgesetz erfüllt.

Danach erklärte „GoChange“, sie würden dem Parlament ein Referendum zur Abstimmung vorlegen, das weiteren Lithiumabbau verbietet.

Im Moment herrscht Ruhe, vielleicht die Ruhe vor dem Sturm. Am 3. April 2022 finden Parlamentswahlen statt. Die Umweltproteste werden weitergehen, sie werden die politische Situation entscheidend beeinflussen.

Wir erwarten tiefgreifende politische Veränderungen und hoffen, sie werden uns (…) die Befreiung von einem Regime bringen, das uns seit zehn Jahren die Luft abschnürt.