(Text: Tessa Pariyar) In den letzten Tagen des Allgenders-Seminars 2018 entstand in der Gruppe, die sich dem Dialog über den Konflikt und die Besatzung mittels Theatermethoden genähert hatte, die Idee, während der Nachfolgetreffen weiter mit dieser Methodik zu arbeiten. Sie wollten die Geschichten der Teilnehmer*innen weiterentwickeln und diese zum Abschluss bei Aufführungen einem Publikum zeigen. Bis in den Sommer des vergangenen Jahres trafen sich die Teilnehmenden zu je vier zweitägigen, bi-nationalen Treffen, 15 uni-nationalen Treffen, die getrennt oder teils vor oder nach den Gesamtgruppentreffen stattfanden und einem Skype-Treffen. Letzteres war eine digitale Notlösung; so konnten sich die Teilnehmer*innen wenigstens über den Bildschirm „wiedersehen“, nachdem das erste gemeinsame Treffen mehrmals verschoben werden musste. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Die anfänglich enormen Schwierigkeiten, Reisegenehmigungen für die palästinensische Gruppe aus Nablus für gemeinsame Treffen in Tel Aviv zu erhalten, aber auch der Krieg in Gaza, die zeitweise Belagerung von Nablus durch die Israelische Armee und die Verhaftung des Vaters einer palästinensischen Teilnehmerin.
Die ersten uni-nationalen Treffen waren nicht einfach. Zurück Zuhause wurden die Teilnehmenden von der Realität vor Ort und ihrem geschäftigen Alltag mit Arbeit und Universitätsvorlesungen eingeholt: Viele der jüdischen Israelis standen vor der Frage, ob sie zur Armee gehen sollten und für die Palästinenser*innen stieg in der politischen Realität der Besatzung der Druck von Freund*innen und Familie, nicht weiterhin Teil des Projekts zu sein. Umso bewundernswerter ist es, dass die Mehrheit der Gruppe bis zum Ende motiviert dabeiblieb. Auch den Konflikt mit der Methodik des Theaters auf der Bühne zum Ausdruck zu bringen, war vor Ort, jenseits der Routine des Seminars, besonders für die Palästinenser*innen herausfordernd. „Wie immer war es für die Teilnehmenden nicht einfach, offen intime Gefühle zu zeigen und diese mit den Anderen zu teilen, insbesondere auf der Bühne als Schauspieler*innen: Aus der Starre zum Leben zu erwachen und anfangen, zu sprechen.“ (Alle kursiv gekennzeichneten Zitate sind den Berichten der Koordinator*innen und Moderator*innen der Partnerorganisation entnommen.)
Mitte Januar 2019 war es dann endlich soweit, die Palästinenser*innen hatten Reisegenehmigungen für ein zweitägiges Treffen in Israel erhalten: „Es war das erste persönliche Treffen der Gesamtgruppe seit dem Seminar in Deutschland. Politisch hatte sich viel ereignet, dadurch stieg auch der Druck auf die Palästinenser*innen, nicht mehr teilzunehmen. Wir begannen mit einem Austausch über unsere Aktivitäten in den letzten Monaten und unserer Motivation, das Programm fortzusetzen. (…) Danach lasen die Teilnehmenden ihre Monologe, die sie im Voraus vorbereitet und besprochen hatten. Yael* und Moran* sprachen über ihren Aktivismus gegen die Besatzung und den Preis, den sie zahlen. Dies hat geholfen, das Vertrauen zwischen den beiden Gruppen wieder aufzubauen.“
Während zwei der israelischen Teilnehmenden ihren Armeedienst total verweigerten und Andere mit ihrem Ersatzdienst in sozialen Einrichtungen begannen, entschied sich eine Teilnehmerin nach langem Überlegen doch zur Armee zu gehen: „Rotem* kam vorbei, um sich von der Gruppe zu verabschieden, da sie entschieden hatte, zur Armee zu gehen. Es war mutig von ihr, sich dieser kontroversen Diskussion zu stellen. Allmählich verstanden die Anderen, dass sie so entschieden hatte, nicht weil sie die Armee unterstützt, sondern weil sie bereit ist, diesen Preis zu zahlen, damit später ihre Stimme, die zur Beendigung der Besatzung aufruft, in der israelischen Gesellschaft gehört wird.“ Während den folgenden Treffen arbeiteten die Teilnehmenden weiter an ihren Geschichten, die sie auf der Bühne zeigen wollten, sowohl inhaltlich als auch methodisch. „Yara* entschloss sich an ihrer Geschichte mit der Methode des Story-telling (Erzählung) weiterzuarbeiten. Zusammen bastelten sie an der Szene. Alya* half, Mohammad spielte mit Yara und dann kam Hasan dazu. Yara wollte ein sehr persönliches Thema darstellen: Wie kann ein „Mevukash“, jemand, der von der israelischen Armee verfolgt und verhaftet wird, sein Leben fortsetzen?“
In der israelischen Gruppe drehen sich viele der Geschichten, die geprobt wurden, um sie den Anderen zu zeigen, um die Armee und die Herausforderungen, denen Israelis begegnen, wenn sie den Militärdienst verweigern: „Moshe* und Aaron* feilten an ihrem Dialog zwischen einem Großvater und seiner Enkelin, die nicht zur Armee will. Der Rest der Gruppe spielte als Familie in der Szene mit, was die israelische Gesellschaft und den Druck, sich der Armee anzuschließen, widerspiegeln sollte. Yael*, Moran* und Yaron* hatten eine Szene am Checkpoint vorbereitet: Eine palästinensische Frau wird erniedrigt, als von ihr verlangt wird, ihren Hijab zu entfernen, bevor ihr erlaubt wird, Essen für ihre Kinder zu holen. Wir versuchten den Standpunkt der jungen Soldat*innen weiter auszubauen, die ebenfalls von ihren Kommandant*innen und der israelischen Gesellschaft unterdrückt werden, und sprachen über Geschlechterfragen an Checkpoints aus verschiedenen Blickwinkeln.“
Schon beim ersten gemeinsamen Treffen kam die Idee auf, die Methode des Theaters der Unterdrückten, die vom brasilianischen Regisseur und Theaterautor Augusto Boal entwickelt wurde, auszuprobieren. Diese bindet Zuschauer*innen partizipativ ein und gibt ihnen während des Stücks die Möglichkeit, in eine Rolle zu schlüpfen und den Lauf der Handlung zu verändern. Das stieß bei der Gruppe auf große Begeisterung und sie beschlossen, dieses Mittel in der Abschlussaufführung zu nutzen. Das Wochenende der Aufführungen rückte näher und die Teilnehmenden diskutierten die Herausforderungen einer halb-öffentlichen Aufführung besonders im Hinblick auf die Sicherheit der Schauspieler*innen während des Spiels, aber auch das Risiko von Anfeindungen und Verleumdung im Nachhinein. Gemeinsam beschlossen sie, vorwiegend mit Masken oder vermummt zu spielen und die Zuschauer*innen zu bitten, Handys während der Aufführung nicht mit in den Theaterraum zu bringen und auch nicht zu fotografieren. Außerdem wurde abgemacht, dass vorerst ausschließlich Menschen, die der Partnerorganisation oder den Teilnehmenden persönlich bekannt sind, eingeladen werden, dies aber auch explizit Menschen mit konservativer oder auch religiös-nationaler politischer Auffassung miteinschließen sollte.
Die Uraufführung fand in Thalita Kumi in Beit Jala statt, welches in der Zone C in des Westjordanlandes liegt und somit auch für Israelis zugänglich ist. Beide Gruppen trafen sich dort am Tag vor der Aufführung zur Generalprobe und, um die letzten Feinheiten abzusprechen. Vor allem die palästinensische Gruppe fieberte dem Ereignis entgegen. Gleichzeitig waren die Schauspieler*innen auch nervös, da einige ihrer Familienmitglieder und Freund*innen am nächsten Tag kommen würden. „Für sie war es eine Art Test, nicht nur für ihre Theaterfähigkeiten, sondern auch für ihre nationale Loyalität. Sie mussten beweisen, dass sich dieses Projekt lohnt“.
Bei ihrer Ankunft und dem ersten Zusammentreffen mit der israelischen Gruppe schienen die Familienmitglieder der palästinensischen Teilnehmer*innen reserviert, die Atmosphäre angespannt. Es gab eine kurze Eröffnung, Erklärungen zum Projekt und der Methode des Theaters der Unterdrückten, dann begann die Aufführung. Die Gruppe zeigte ihre Szenen und schon bald erhoben sich die ersten Zuschauer*innen von ihren Stühlen und wurden Teil des Spiels. „Die Beteiligung des Publikums übertraf alle Erwartungen. Sowohl als sie in Rollen schlüpften, um der Szene neue Richtungen zu geben, als auch während der Diskussion, die auf jede Szene folgte. Während des Mittagessens war die Atmosphäre anders. Diejenigen, die vorher reserviert waren, waren viel offener. Besonders bemerkenswert war die Reaktion eines Bruders einer Teilnehmerin, der sie zuvor unter Druck gesetzt hatte, die Gruppe zu verlassen. Nach der Vorstellung änderte sich seine Wahrnehmung. In der abschließenden Diskussion nach dem Mittagessen brachte er seinen Respekt vor dem Programm zum Ausdruck. Die Diskussion mit den Teilnehmenden danach war lebhaft und euphorisch. (…) Hasan* erinnerte sich an die Zweifel, die er im ersten Seminar vor seiner Reise nach Deutschland an der Macht des Theaters geäußert hatte. Jetzt, sagte er, kann er wirklich die Wirkungen sehen, die es auf das Publikum hat.“
Auch die Aufführung in Tel Aviv am Folgetag wurde überraschend gut vom Publikum aufgenommen: „Wir zeigten u.a. die Szene, die Yara* geschrieben hat und die die wahre Geschichte ihres Vaters erzählt, der, nachdem er in der 2. Intifada gekämpft hatte, für viele Jahren inhaftiert war. Im Gefängnis erkannte er die Bedeutung und den Wert von gewaltfreiem Aktivismus. Trotzdem wurde er in den letzten Monaten erneut festgenommen und zweimal geschlagen. Diese und die anderen Geschichten berührten die Herzen und forderten die Köpfe des Publikums heraus. In einer Gruppendiskussion nach der Vorstellung sagte Leah*, eine Schulleiterin aus Haifa: Ich wurde aus meiner Komfortzone gerissen. Ich bin entschlossen, einen Weg zu finden, um meinen Schüler*innen diese Themen nahezubringen, ohne als Verräterin dargestellt zu werden.“ Und Yara erwiderte darauf, „Das ist die Veränderung, die ich erreichen wollte.“
Es war ein Wochenende voll Mut machender Erfahrungen, positiver Rückmeldungen und Reaktionen des Publikums, welche die Gruppe in ihrem Aktivismus bestärkte. Dies gab ihnen eine leise Hoffnung auf mögliche Veränderung zurück. Jedoch wurden die Teilnehmer*innen sehr schnell von der politischen Realität eingeholt: Bei ihrem Abschlussessen am Strand von Tel-Aviv wurde ein palästinensischer Teilnehmer von der Polizei festgenommen, weil seine Einreiseerlaubnis vermeintlich nicht gültig war. In Handschellen und Fußfesseln wurde er zur Wache gebracht. Erst nach langem Hin und Her kam er wieder frei.