Der Konflikt ist sinnlos, sobald du die Menschen kennen lernst

Mirah S. (*Name geändert) ist 22 Jahre alt und im Flüchtlingscamp Dheisheh bei Bethlehem aufgewachsen. Ihre Familie kommt ursprünglich aus Dewan, einem Dorf nahe Jerusalem. In diesem Interview berichtet sie Barbara Esser, neben ihren Erfahrungen aus dem Seminar, wie ihre Herkunft ihr Leben bisher prägte.

Mirah S.: Das Leben in einem Flüchtlingscamp ist sehr schwer und voller Hindernisse, sowohl sozial als auch politisch gesehen. Mein Vater hatte nicht die Möglichkeit, seine Schulausbildung abzuschließen, er arbeitet als Bauarbeiter. Meine Mutter ist Hausfrau und Mutter. Irgendwie haben sie das Geld aufgetrieben, um mich zur Uni zu schicken. Ich habe einen Bachelor in Biologie und Chemie und will meinen Master in London in Global Health and Epigenetics machen. Das Leben in einem Flüchtlingscamp ist sehr anstrengend. Wenn du jung bist, begreifst du nicht, was sich außerhalb der Blase des Camps befindet. Die Häuser sind sehr eng aneinander gebaut, wir hatten keine Krankenversicherung, wir hatten im Prinzip kein Rechtssystem und auch keine Regierung, weil wir der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für die Palästinenser) unterstehen. Als ich anfing neue Leute zu treffen, egal ob Palästinenser oder Ausländer, wurde mir klar, dass es nicht normal ist, in einem Flüchtlingscamp zu leben. Es ist nicht ok, sozial ausgeschlossen und untergeordnet zu sein oder dass jemand auf dich herabschaut, nur weil du Flüchtling bist. Und seit mir das klar geworden ist, habe ich angefangen an mir zu arbeiten und mich weiter zu entwickeln, um den anderen zu beweisen, das Stereotype über Flüchtlinge völlig gegenstandslos und einfach falsch sind.

B.E.: War das Seminar für Dich die erste Gelegenheit, Israelis zu treffen?

M.S: Ja. Am Anfang war das sehr seltsam. Ich befand mich in einem inneren Konflikt, ob ich hierher kommen und mit Israelis in einem Raum sitzen sollte, weil ich seit meiner Kindheit gelernt habe, dass sie die Bösen sind. Menschen zu treffen – nicht Politiker – eine junge israelische Frau zu sehen, die auch Anstrengungen überwunden hat, und dies mit einem Gesicht zu verbinden, zu sehen wie ähnlich wir uns sind – ähnlicher als verschieden, hat mich sehr verändert. Ich habe erkannt, dass der Konflikt zwischen Politikern stattfindet. Er ist sinnlos, sobald du die Menschen kennenlernst.

B.E.: Gab es etwas, das Dich sehr überrascht hat?

M.S.: Ich war überrascht, wie viele pro-palästinensische Israelis es gibt, weil man einfach nie von ihnen hört. Und als sie vom Holocaust und Antisemitismus erzählten, konnte ich mich damit identifizieren. Als Kind habe ich auch immer wieder von meiner Großmutter erzählt bekommen, wie sie aus ihrem Haus vertrieben wurde. Und wie sie die Nakba durchstehen und dann an einem Ort unter sehr schlechten Bedingungen leben musste, der nicht ihr Zuhause war. Dadurch konnte ich mich mit ihrem Kampf und ihrem Leid identifizieren. Auch den Antisemitismus kann ich als Flüchtling nachempfinden. Sowohl die palästinensische Gesellschaft als auch die Mitarbeiter der internationalen Organisationen haben immer auf uns Flüchtlinge herabgeschaut. Mehr als einmal haben Leute zu mir Sachen gesagt wie, „Oh, Du sprichst total gut Englisch! Bist Du wirklich Flüchtling?“ oder „Du bist so schlau! Bist du wirklich Flüchtling?“ Die Erzählungen der Israelis haben mir gezeigt, dass ich nicht die einzige Person bin, die von Rassismus oder Diskriminierung betroffen ist.

B.E.: Wie wird es wohl sein, wenn Du zurückgehst? (Mirah lacht) Hast Du jemandem von dem Seminar erzählt?

M.S.: Meinen besten Freunden und meiner Familie. Sie waren sehr überrascht, weil so etwas kulturell gesehen bei uns nicht die Regel ist. Anfangs haben sie mich gewarnt, dies könne Konsequenzen für mich haben, aber ich glaube wirklich in die Macht der Menschen. Ich glaube daran, dass wir Veränderungen bewirken können und dass wir die Kraft besitzen unser Verständnis und unsere Realität zu verändern. Ich habe mir nicht ausgesucht, Palästinenserin zu sein, und sie haben sich nicht ausgesucht, Israelis zu sein. Aber wenn wir uns vereinigen und unsere Realität verändern, wird sich auch der ganze Konflikt wenden.

B.E.: Du sagtest anfangs, dass Du Dich verändern hast, als Dir bewusst wurde, dass Du Flüchtling bist. Würdest Du Dich als Aktivistin bezeichnen?

M.S.: Ich bin in vielerlei Hinsicht Aktivistin, allerdings nicht im politischen Verständnis des Begriffs, d.h. ich gehe nicht zu Demos. Ich fühle mich keiner palästinensischen Partei zugehörig, sondern bin in meiner näheren Umgebung aktiv. Ich habe ein Projekt mit ins Leben gerufen, das sich „Womens Right For Health and Education“ (Frauenrecht auf Gesundheit und Bildung) nennt. Als ich ein Praktikum bei einer Klinik in Dheisheh gemacht habe, kamen sehr viele junge Mädchen für einen Schwangerschaftstest. Mich als Feministin hat total schockiert, dass sie überhaupt nichts über den weiblichen Körper und Geschlechtsverkehr wussten, und mir wurde klar, dass hier Frauen missbraucht werden. Das darf nicht passieren, und deshalb habe ich mit diesem Projekt angefangen. Ich besuche verschiedene öffentliche Schulen und gebe Workshops über den weiblichen Körper, den sich verändernden Hormonhaushalt, was passiert, wenn du schwanger wirst, und all diesen Biologiekram. Eine andere Sache, die mich sehr fasziniert, ist ein Projekt, dass sich Campus in Camps nennt und die Uni in Flüchtlingscamps bringt. Viele junge Flüchtlinge [Mirah spricht hier von „Flüchtlingen“, es handelt sich um junge Palästinenser, deren (meist) Großeltern geflohen sind und die im Flüchtlingslager geboren wurden; Anm. d. Red.] haben nicht die finanziellen Möglichkeiten zur Uni zu gehen. Das Projekt wurde von einem Palästinenser und einem Italiener gegründet, und ich gebe regelmäßig Englischunterricht. Außerdem habe ich viel als Freiwillige in Gemeindezentren oder bei Sommercamps gearbeitet. Ich habe mitgeholfen, die erste Bibliothek in Dheisheh aufzubauen, in der wir Bücherspenden von Privatpersonen oder Institutionen sammeln. Außerdem schreibe ich Artikel und habe bisher drei veröffentlicht, einen in London bei UN Changemakers und einen in Mashalaludh im Libanon. Sie handeln von den Anstrengungen einer jungen Palästinenserin in der Gesellschaft.

B.E.: Hat es für Dich einen Unterschied gemacht in einem Seminar nur mit Frauen zu sein?

M.S.: Ja, ich habe das wirklich genossen und fand das toll und sehr, sehr bestärkend. Frauen haben überall mit Anstrengungen und Hindernissen zu kämpfen. Sich mit anderen Frauen zu verbinden und zu sehen wie inspirierend sie sind, bereichert dich persönlich und bringt dich weiter. Zwei der Teilnehmerinnen sind z.B. verheiratet und haben Kinder. Sie sind trotzdem hierher gekommen und sagen, „Ich will jetzt etwas verändern und ich engagiere mich in der Gesellschaft”. Das sagt viel aus über die Stärke von Frauen.

B.E.: Vielen Dank! Gibt es etwas was Du abschließend sagen möchtest?

M.S.: Das hört sich jetzt vielleicht kitschig an. Ich hoffe wirklich, dass dieses Projekt weitergeht. Es hat mir viel bedeutet und ich habe gesehen, dass es auch den israelischen Teilnehmerinnen viel bedeutet hat. Zu Anfang war die Atmosphäre sehr eisig, sehr kalt, die Israelinnen waren auf der einen, die Palästinenserinnen auf der anderen Seite. Und jetzt weine ich zusammen mit einer israelischen Freundin und sage zu ihr „Wir durchleben eine Trennung, wir gehen zurück nach Israel oder Palästina“. Und obwohl wir in ein und demselben Land leben, ist es so schwierig sich zu treffen.