Jelena Stulic ist seit Langem Mitglied des Netzwerks Youth United in Peace und Mitgründerin der Organisation LINK, unserer Partnerorganisation in Sombor, Serbien. Anfang September sprach sie mit Katharina Ochsendorf über die aktuelle Situation in Serbien und die Arbeit von YU-Peace unter Coronabedingungen. Eine gekürzte Version des Gesprächs haben wir in unserer aktuellen Herbstinfo abgedruckt- hier finden Sie das komplette Interview.

Bild: Die Gründer*innen von LINK in ihrem neuen Büro.

K.O.: Wie ist die aktuelle Lage in Serbien?

J.S.: In Serbien wurden bisher 31.849 Coronafälle registriert, 723 davon endeten tödlich (Quelle: covid19.rs). Seit die Maßnahmen gelockert wurden und die Ausgangssperren nach den Protesten von Bürger*innen vor etwa einem Monat aufgehoben worden sind, ist es eigentlich obligatorisch, in geschlossenen Räumen Masken zu tragen, doch viele Menschen halten sich nicht daran. Die Maßnahmen sind von Stadt zu Stadt unterschiedlich und die Regelungen werden auch von Person zu Person unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt. In unserer Nachbar*innenschaft in der Stadt Sombor werden die Maßnahmen, wie in den meisten Städten Serbiens, im Großen und Ganzen eher nicht eingehalten, es sei denn, Kontrollen sind in Sicht. In Anbetracht dessen, dass in den Medien (insbesondere das Fernsehen) aktuell nicht mehr so viel über Corona gesprochen wird, hat die Panik abgenommen – und damit die Nachlässigkeit der Bürger*innen zu. Es kursieren verschiedenste Informationen und Geschichten, ganz zu schweigen vom Klatsch und Tratsch in der Stadt, denn tatsächlich weiß niemand, wie viele Menschen in Serbien oder in den Städten Serbiens wirklich infiziert sind. Die Informationen, die verbreitet werden, sind größtenteils falsch und sie ändern sich stetig, je nach politischer Situation im Land. So stagnierten vor den Präsidentschaftswahlen die Zahlen der Infizierten – am Tag nach den Präsidentschaftswahlen stieg die Zahl der Infizierten plötzlich stark an und die Situation wurde alarmierend. Vor der Wahl fand ein Fußballspiel zwischen den beiden bekanntesten Vereinen Serbiens vor Publikum statt, das vom sogenannten „Krisenstab zur Eindämmung von COVID 19“ zugelassen wurde, während Versammlungen von mehr als 10 Personen nicht gestattet waren.

In Bezug auf die politische Situation in Serbien liegt der mediale Fokus derzeit auf der Stadt Sabac, in der die Kommunalwahlen aufgrund festgestellter Unregelmäßigkeiten in den meisten Wahllokalen wiederholt werden. Viele europäische Institutionen verfolgen die Abstimmung, weil es, wie sie sagen, der einzige Ort in Serbien sei, an dem ein Hauch von Demokratie existiert. Während seines Besuchs im Weißen Haus erklärte Serbiens Präsident Vucic außerdem die Verlegung der serbischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem. Serbien das einzige europäische Land, das dies tut (…).

K.O.: Und wie war die Arbeit bei deiner Organisation in diesem Jahr bisher? Wie haben die Coronapandemie andere politische Entwicklungen Deine Arbeit beeinflusst?

J.S.: Die Ausgangssperren, die von März an über etwa drei Monate lang andauerten, hatten enorme Auswirkungen auf uns persönlich und unsere Organisation. Einerseits hatten wir Angst, uns mit Corona anzustecken; andererseits fürchteten Viele um ihre Existenz, weil viele von uns in dieser Zeit ihre Lohnarbeit, der sie zusätzlich zur Arbeit bei LINK nachgehen, verloren. Auch die Ausgangssperren haben alle psychisch stark mitgenommen. Wir hatten vier Tage die Woche Ausgangssperre, was unsere psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigte. Am schlimmsten war, dass wir nie wirklich wussten, wie viele Menschen in unserer Stadt und im Land infiziert waren. Die staatlichen Informationen, die wir bekamen, erwiesen sich größtenteils als falsch. Außerdem wusste niemand, ob die Ausgangssperren enden würden – unabhängig davon, wir sehr sie uns belasteten oder ob Menschen versuchten, sich dagegen zu wehren.

K.O.: Welche Art von Aktivitäten konntet ihr in diesem Jahr bei LINK überhaupt realisieren bisher?

Als die Maßnahmen gelockert wurden und wir nach draußen gehen konnten, konnten wir Dank den Geldern von Medica Mondiale aus Köln und Ana und Vlade Divac aus Serbien den Schwächsten in unserer Stadt helfen. Wir haben rund 80 Hilfspakete an alleinerziehende Mütter, Familien und diejenigen verteilt, die besonders von der Coronapandemie betroffen sind und ihnen eine Grundausstattung an Lebensmitteln und Hygieneprodukten gegeben, die für das Leben in Sombor und in den vier Dörfern um Sombor – Bezdan, Kolut, Stanisic und Backi Monostor gebraucht werden. Nur dank der tatkräftigen Mithilfe der YU-Peace-Aktivist*innen war es möglich, die bedürftigen Menschen zu finden und die Hilfspakete zu verteilen. Zusätzlich haben wir es geschafft, für die Menschen in der Stadt Einkaufsgutscheine für kleine lokale Geschäfte zu organisieren, um auch sie in diesen schwierigsten Zeiten zu unterstützen.

Was mir ebenfalls sicherlich in Erinnerung bleiben wird, ist die grenzüberschreitende Verbundenheit mit meinen Freund*innen des Netzwerks YU-Peace, die sich auch diesen schwierigen Zeiten bewährt hat. In Online-Gesprächen und Videokonferenzen mit Freund*innen aus Bosnien-Herzegowina und Kroatien tauschten wir Informationen über die Situation in unseren Ländern aus. Vor allem aber unterstützten wir uns täglich gegenseitig und kämpften gemeinsam mit der schwierigen Situation, was oft mit Gefühlsausbrüchen verbunden war. Gerade in dieser Zeit wurde die Stärke von YU-Peace besonders sichtbar, worauf ich besonders stolz und wofür ich sehr dankbar bin!

K.O.: Wie war das YU-Peace-Projekt in diesem Jahr bisher? Welche Aktivitäten mit Jugendlichen, waren möglich und sind für dieses Jahr noch geplant?

J.S.: Als die Coronasituation ernster wurde, während der Ausgangssperren, sprachen wir einmal pro Woche mit den Mitgliedern von YU-Peace aus Serbien: darüber, wie sie sich fühlen, was sie in Bezug auf die Situation denken und was sie während den Ausgangssperren tun usw. Wir sendeten ihnen auch Links zu Online-Schulungen. Gemeinsam tauschten wir gute Filme und Serien aus, hauptsächlich zum Thema Menschenrechte, die wir später bei den Online-Treffen diskutierten. Darüber hinaus standen wir mit den älteren Mitarbeiter*innen und Aktiven von YU-Peace online im ständigen Austausch, um zu erfahren, wie die Situation in ihren Ländern ist und wie wir das Online-Camp möglicherweise umsetzen können. Nun steht fest, dass sich trotz Corona einige der Aktiven aus allen drei Ländern am 21. September in Srebrenica treffen, um den Internationalen Tag des Friedens zu feiern, den wir jedes Jahr im Rahmen von Camps oder Wochenendbesuchen gemeinsam begehen.

K.O.: Und wie siehst Du die langfristigen Auswirkungen der Pandemie und der politischen Entwicklungen in Deinem Land insgesamt?

J.S.: Laut Expert*innen soll es eine weitere Coronawelle im Oktober geben. Ich weiß nicht, wie sie zu diesem Schluss gekommen sind, da sie nicht wirklich darüber sprechen, sondern nur sporadisch verschiedene Annahmen bezüglich der Situation treffen. Journalist*innen in Serbien sind keiner beneidenswertesten Position: Wenn sie die Wahrheit berichten, werden sie von den Behörden ins Visier genommen. Die Regierung prüft dann ihre Finanzen und sucht nach einem Grund, ihnen irgendetwas vorzuwerfen, um sie zu stoppen und „zum Schweigen zu bringen“. Wir haben kaum Zugang zu objektiven Informationen und ich glaube, dass dies in naher Zukunft ein großes Problem sein wird. Bürger*innen, insbesondere ältere Menschen, werden bereits jetzt manipuliert, weil sie nicht wissen, wie sie Informationen auswählen und wahr von falsch unterscheiden sollen. Noch bin ich optimistisch und denke, dass dieser Zustand doch mal enden muss. Aber im Moment sieht es nicht danach aus, sondern eher so, als ob die kritische Masse um jeden Preis „zum Schweigen gebracht“ werden muss.

K.O.: Glaubst Du, dass die Pandemie und die damit verbundenen politischen Entwicklungen langfristige Auswirkungen auf YU-Peace haben werden?

J.S.: Die aktuelle politische Situation und die Situation in allen drei Ländern ist momentan sicherlich nicht gut. Die wird sich auf alles auswirken, einschließlich YU-Peace. Doch ich bin mir der Stärke des Netzwerks YU-Peace und der Kraft unseres Teams und den jungen Aktivist*innen, die das Netzwerk ausmachen, zu 100% sicher. Wir hoffen zwar, dass sich die Situation verbessern wird und wir uns wieder treffen können, ich glaube allerdings, dass das Gegenteil passieren wird. Für diesen Fall werden wir Online-Treffen abhalten, bei denen ein großartiges Team von Moderator*innen eine Reihe verschiedener Aktivitäten entwickelt. Auf diese Weise werden die jungen Menschen, wie auch während der ersten Coronawelle, online in Kontakt bleiben und sich gemeinsam neue Wege der Friedensarbeit überlegen. Wir haben viel zusammen durchgemacht, daher glaube ich nicht, dass Corona das Ende einer Gemeinschaft wie YU-Peace sein wird!

K.O.: Wie wirkt sich die Situation auf Dich persönlich aus?

J.S: Mit dem Beginn der Coronakrise verlor ich (wie viele andere auch) meinen Job, was mich stark belastete. Es ist äußerst schwierig, nicht zu wissen, wann alles vorbei sein wird und wann Du wieder nach einem Job suchen kannst und wie Du bis dahin wirklich überleben kannst, ich meine im Sinne von genug Geld zu haben, um davon zu leben.

Für mich persönlich waren die Ausgangssperren blanker Hohn, da ausgewählte Unterstützer*innen der regierenden politischen Partei die Erlaubnis erhielten, sich zu bewegen, während der Rest von uns in ihren Häusern eingesperrt war. Ich glaube, dass die Tatsache, das Haus nicht verlassen zu dürfen, einer der schwierigsten Aspekte der Situation war, die bei mir Ärger und ein Gefühl der Hilflosigkeit auslösten. Ich wusste nicht, wann ich mich wieder frei in der Stadt bewegen kann, geschweige denn Ausflüge unternehmen. Außerdem machte ich mir große Sorgen um die älteren Familienmitglieder, die laut Verordnung wochenlang gar nicht nach draußen gehen durften. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt!

Als ich sah, wie schwer (in jeder Hinsicht) die Situation für mich zu ertragen war, begann ich an all diejenigen zu denken, die zuvor schon sozial gefährdet waren, an alle Frauen, die Gewalt erlitten hatten (und die Gewalt gegen Frauen nahm während der Pandemie zu) und ihr Haus nicht verlassen konnten. All diese Gedanken haben mich sehr beschäftigt. Gerade deshalb bin ich all meinen Freund*innen vom YU Peace-Netzwerk dankbar, die mich mindestens einmal am Tag durch Online-Anrufe unterstützen. Ohne sie wäre alles viel schwieriger für mich gewesen. Gemeinsam haben wir in all diesen schwierigen Tagen einander aufgebaut und versucht optimistisch zu stimmen, und dafür werde ich ihnen für immer dankbar sein!