Mira K.* aus Palästina nahm 2019 am Frauen*seminar teil. Kurz vorher kündigte sie ihren Job und im Anschluss an das Seminar ging sie nach Belfast, um dort ein Postgraduiertenprogramm im Bereich Seelsorge und Gesundheitskommunikation zu machen. Nach ihrer Rückkehr sprach sie mit Laura Kotzur.

L.K.: Wie war das Zurückkommen nicht nur nach dem Seminar, sondern auch nach Belfast?

M.K.: Es war sehr intensiv, besonders nachdem ich so viel über Beratung und Psychologie gelernt hatte. Letztendlich war es nicht nur ein Abschluss, sondern eine Art Reise zu mir selbst. Das vergangene Jahr hat meine Sichtweise wirklich verändert. Zurückzukommen war ein kleiner Schock, ein Kulturschock für mich mit meinem neuen Ich und meinen neuen Erkenntnissen.

L.K.: Während des Seminars sprachen wir über innere Konflikte, die du schon beim Seminar und davor hattest. Wie hat sich das im letzten Jahr entwickelt?

M.K.: Ich denke, das Seminar war nicht nur für mich, sondern für uns alle etwas Besonderes. Ich habe schon einmal am Allgenders-Seminar teilgenommen und ich kann definitiv sagen, dass es wirklich einen Unterschied gemacht hat, diese Atmosphäre, die entsteht, wenn nur Frauen Teil des Prozesses sind: Sie hat einen sicheren Raum für alle ermöglicht, nicht nur, um die eigenen politischen Ansichten zu entdecken, sondern auch, um zu hören, was in den anderen vorgeht (…).

Ich war von dieser Erfahrung wirklich tief beeindruckt. Sie hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, von Frauen umgeben zu sein und wie mich das in so vielen Zusammenhängen stärkt. Ich wurde von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, dadurch weiß ich das Gefühl zu schätzen, von Frauen unterstützt zu werden. (…) Aber ich konnte es bisher nicht auf den Umgang mit meiner Umgebung übertragen. Erst nach dem Seminar konnte ich selbstbewusst sagen, dass die Erfahrung im Frauen*seminar wirklich ein Wendepunkt für mich war. Und das Interessante ist, dass ich auch danach in Belfast sehr enge Freundschaften nur mit Frauen geschlossen habe. (…) Besonders während Corona war das sehr präsent für mich und ich war dafür sehr dankbar. Das Seminar war nicht nur von politischem Wert, sondern auch wichtig für mein soziales und persönliches Wachstum.

L.K.: Ich erinnere mich auch daran, dass du dem Seminar anfangs sehr skeptisch gegenüberstanden hast. Denkst du, dass es eine persönliche Beziehung braucht, um über den Konflikt auf eine nicht normalisierende Weise zu sprechen?

M.K.: Ich denke, Normalisierung bedeutet nicht unbedingt, andere Menschen persönlich kennenzulernen und mit ihnen als Menschen zu interagieren. Für mich heißt Normalisierung vielmehr, dass man sich so sehr der anderen Seite annähert, dass man vergisst, wer man ist, woher man kommt und warum man an diesen Aktivitäten teilnimmt. Und ich denke gerade bei dem Seminar in Deutschland waren diese Dinge immer präsent. Ich glaube nicht, dass irgendeine von uns, auch nicht in der persönlichen Interaktion, vergessen hat, was sie tut oder warum sie gekommen ist. Das Seminar war auch sehr gut strukturiert, was es uns ermöglichte, schrittweise, aber auf sehr natürliche Weise auf diese „Reise“ zu gehen. (…) Ich habe keine Sekunde gezweifelt und mich gefragt, ob das, was ich tue, richtig oder falsch ist; ob es meine Werte widerspiegelt oder nicht. Die Struktur und Form des Seminars haben wirklich geholfen, nicht zu sehr in die Aktivitäten abzutauchen, die nicht im engeren Sinne politisch sind. Ich war mir immer bewusst, wer ich bin und was ich tue. (…)

L.K.: Im letzten Teil des Seminars habt ihr viel über Transitional Justice[1] gesprochen. Was hast du daraus mitgenommen?

M.K.: Da der Begriff für mich neu war, habe ich zuerst kein Licht am Ende des Tunnels gesehen. Aber das Konzept wurde sehr kraftvoll für mich, als ich dann wirklich verstand, was es für ein ganzes Land und dessen Bevölkerung bedeutet. Als ich nach Belfast ging und sah, wie es in Nordirland angewendet wurde, ergab es wirklich Sinn. Es ist möglich! Sicher, sie leben immer noch im Konflikt. Sicher, sie tragen immer noch Geschichten mit sich herum, aber sie leben friedlich. Das gab mir ein bisschen Optimismus. Wenn man ein Bewusstsein für die Realität entwickelt, dann kann man wirklich etwas verändern. Das ist für mich sehr wichtig, weil viele Menschen auf der israelischen Seite – und auch auf der palästinensischen Seite – nicht wissen, was wirklich vor sich geht. Diese Dinge werden ihnen nicht beigebracht. Meiner Meinung nach werden sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Es ist nicht Teil ihrer Schulbildung. Ihnen werden nur bestimmte Dinge erzählt und das ist das einzige Narrativ, das sie kennen. Ich denke, solche Dialogseminare sind besonders für junge Menschen, idealerweise vor ihrem Armeedienst, wichtig. Die Armee dient nicht nur dem eigenen Land. Es gibt zwei Seiten dieser Medaille – die Palästinenser*innen sind direkt vom Handeln dieser Armee betroffen. Deshalb sind Dialoge in diesem Alter oder sogar noch früher so wichtig, damit die Einzelnen wissen, was die Konsequenzen ihres Handelns sind. (…)

L.K.: Frieden heißt also nicht, friedlich oder unbewaffnet zu sein, sondern setzt Gerechtigkeit voraus?

M.K.: Vorausgesetzt man versteht, was Gerechtigkeit für beide Seiten bedeutet. Die Israelis denken oft, dass Gerechtigkeit für uns Palästinenser*innen bedeuten würde, uns das ganze Land zurückzunehmen und alle Juden und Jüdinnen auszuweisen. Aber die Vergangenheit ist schon Vergangenheit und Gerechtigkeit bedeutet nicht unbedingt eine radikale Veränderung. Es geht um Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit, Menschenrechten und einem guten Leben für alle. Das bedeutet für mich Gerechtigkeit und dafür setze ich mich ein.

L.K.: Am Anfang sagtest du, du sahst kein Licht am Ende des Tunnels. Hat sich das nach diesem Jahr geändert?

M.K.: Das hat sich geändert, weil ich mehr an die Menschen und nicht an die Führungsfiguren glaube. Und jetzt sehe ich, dass die Menschen sich bewusster werden, welchen Schaden führende Politiker*innen oft in den Gesellschaften und darüber hinaus anrichten. Das gibt mir ein bisschen Hoffnung. Die Menschen versuchen, etwas zu ändern.

Ich möchte betonen, dass es mehr als nur ein Seminar war. Ich denke, für jede*n von uns war es eine persönliche Reise, die uns zum Positiven verändert hat. Und das unterscheidet dieses Seminar von anderen (…). Ich würde es auf jeden Fall weiterempfehlen und es wieder machen, weil es mich so sehr beeinflusst hat.

*Name geändert

[1] Transitional Justice umfasst Prozesse, die nach einem gesellschaftlichen Umbruch den Übergang von einem Kriegszustand zu einer Post-Konflikt-Gesellschaft aufarbeiten und begleiten. Mithilfe von politischen, juristischen und gesellschaftspolitischen Instrumenten liegt der Fokus insbesondere auf der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen.