Samira P.*, 28 Jahre alt, ist in Jenin geboren und aufgewachsen. Sie hat vor kurzem ihr Studium beendet und lebt nun in einer anderen Stadt, weit entfernt von ihrer Familie. Im Sommer 2019 nahm sie am Allgenders-Seminar für Israelis und Palästinenser*innen teil. Über ein Jahr später sprach sie mit Khalil Toama über ihre Erfahrungen beim Seminar.
K.T.: 2019 hast du am Dialogseminar teilgenommen. Wie war es für dich, außerhalb der Konfliktzone über den Konflikt zu diskutieren?
S.P.: Es hat mich sehr gefreut, das Westjordanland verlassen zu dürfen und zu können. Wir leben in einem Gefängnis oder Hausarrest: da sind die täglichen Schikanen der Besatzungsmacht und von den Siedler*innen, die uns ständig stören, angreifen, beleidigen, unsere Ernten von den Feldern oder Olivenhainen klauen, mit dem Ziel, unser Leben unerträglich zu machen, damit wir von dort abhauen. Das ist der eine Aspekt. Abgesehen davon haben die Diskussionen außerhalb des Konfliktgebiets einen positiven Einfluss auf mich. Es hatte eine tiefe Wirkung auf mich.
K.T.: So euphorisch? In welchem Sinne?
S.P.: Die Probleme von außen zu betrachten hat mir geholfen, sauberer und klarer zu denken und meine Gedanken zu ordnen. Ich habe interessante Menschen kennengelernt, mit denen ich außerhalb der täglichen Workshops lange Gespräche geführt habe, die meinen Horizont erweitert haben. Zuhause hätte ich gezwungener Maßen über die täglichen Probleme reden, ärgern, meckern und verzweifeln müssen.
K.T.: Hast du noch Kontakte zu deinen neuen Bekannten?
S.P.: Die meisten Teilnehmenden sind meine Freund*innen in den sozialen Medien geworden. Ich sehe von Zeit zu Zeit ihre Nachrichten und Meinungen. „Von Zeit zu Zeit“ sage ich, da ich mit dem Studium und Jobben ausgelastet bin und weil wir nicht ständig Zugang zu Internet haben und nicht immer Strom.
Persönliche Treffen kommen nicht immer in Frage, da wir uns auch innerhalb der West Bank nicht frei bewegen können. Man muss sehr viele Checkpoints passieren, wo die Soldaten uns schikanieren und oft stundenlang im Freien warten lassen, egal ob es regnet oder 40 Grad Celsius hat.
K.T.: Würdest du nochmal an ähnlichen Seminaren teilnehmen?
S.P.: Ich wünsche mir noch mehr Veranstaltungen, Aktivitäten und andere Diskussionen. Ich habe nichts gegen die Teilnahme an Aktivitäten, die zielgerichtet und effektiv sind, eine Botschaft an die andere Seite senden und die palästinensische Stimme vertreten, um einen gerechten und echten Frieden anzustreben. Die ganze Welt spricht von Frieden, aber das Wort Gerechtigkeit wird nie erwähnt. Überall, auch in Deutschland, ist die Rede von „Mut zum Frieden“. Frieden braucht keinen Mut. Was wir brauchen ist Mut zur Wahrheit und Mut zur Gerechtigkeit.
K.T.: Warst du mit den Themen, die im Seminar besprochen wurden, zufrieden?
S.P.: Es gab nicht genügend Zeit, um alle Aspekte des Konflikts zu besprechen. Mögliche Optionen der Konfliktlösung wurden deswegen nicht ausführlich behandelt. Die israelische Seite hat kein Interesse gezeigt, vom unmenschlichen Verhalten ihrer Armee, d.h. ihrer Soldaten zu hören. Manche Praktiken der Armee würde man woanders als kriminell bezeichnen und als Kriegsverbrechen ahnden. Auch in privaten Gesprächen wurden die Geschehnisse entweder als Verhalten einzelner Soldaten beschrieben oder als
Ausführung von Befehlen relativiert. Wenn man die Wahrheit nicht hören will oder kann, kann man auch nicht für Gerechtigkeit eintreten.
K.T.: Beziehst du dich hier auf konkrete, persönliche Erfahrungen?
S.P.: Zum Glück war ich kein Opfer in diesem Sinne. Aber wie oft werden junge Palästinenser*innen aus bloßem Verdacht heraus angeschossen. Und wenn sie blutend und schreiend auf dem Boden liegen, werden Freund*innen, Verwandte, Eltern und sogar Rettungsmannschaften daran gehindert, Erste Hilfe zu leisten. Oft dauert es 20, 30 Minuten bis die Verwundete verblutet und schließlich stirbt. Oft sind 7 bis 12 schwer bewaffnete Soldat*innen anwesend, um den Tod zu sichern und jegliche Hilfeleistung unter Drohung mit der Waffe zu verhindern. Niemand ahndet dies. Solche Beispiele sind sehr verbreitet. Israelische Menschenrechtsorganisationen haben solche Ereignisse mehrfach dokumentiert und diese scharf kritisiert.
K.T.: Was hat dir am Seminar besonders gefallen? Hat dir etwas gefehlt?
S.P.: Mir haben zwei, drei Sachen gefehlt: Mehr von der atemberaubenden Natur, sowie der kulturellen Seite Deutschlands zu sehen und nähere Kenntnisse über das Leben der Menschen in Deutschland, besonders der Jugend, zu gewinnen. Mich hat fasziniert, wie ernst das deutsche Team uns und unsere Probleme nahm und dass sie keine Unterschiede zwischen uns Palästinenser*innen und den jüdischen Israelis machten.