David R.* ist 33 Jahre alt und in vierter Generation in einem Kibbutz, in der Nähe von Haifa, aufgewachsen. Die politische Haltung seiner Familie bezeichnet er als humanistisch-liberal-links. Mit seinen Eltern ging er schon als Kind zu Demonstrationen. Frieden und Gleichberechtigung waren Themen, über die in seinem Elternhaus viel gesprochen wurde. Trotzdem (und dies war für ihn und seine Familie kein ideologischer Widerspruch) hatte die Armee einen großen Stellenwert. David spricht mit Schulamith Weil über seinen Dienst bei der Armee. Dort führten ihn stetig wachsende Zweifel zu dem Entschluss, auch den Reservedienst zu verweigern. Im Seminar steht er nun Palästinenser*innen zum ersten Mal ohne Uniform gegenüber.

David R.: Die Kibbutz-Gesellschaft unterstützte es sehr, etwas zum Staat beizutragen und den wichtigsten Kampfeinheiten der Armee beizutreten. Auch ich machte vorbereitende Kurse für den Militärdienst und nach dem sozialen Jahr trat ich den Fallschirmspringern bei. (…) Während des Diensts bekam ich plötzlich moralische Konflikte zwischen meiner Erziehung, die mich gelehrt hatte, „etwas beizutragen und verantwortlich zu sein‚ der Staat braucht mich“ und dem plötzlichen Verständnis: Die Aufgaben, die ich erfüllen werde, werfen Wertfragen auf. Nach vier Monaten in der Armee entschied ich, dass ich nicht in dieser Funktion bei der kämpfenden Truppe sein wollte. Ich ging zu meinem Offizier und sagte ihm, dass ich wegwollte, zur Bildungseinheit, etwas machen wollte, das keinen Dienst in den (Anm.: palästinensischen) Gebieten verlangt. Drei Tage lang sprachen sie nicht mit mir, niemand.

Dann kam mein Vorgesetzter, der auch ein Kibbuznik, auch ein Linker war; wir hatten so eine gemeinsame Sprache. Er sagte mir, dass er mich gut verstehe, dass er ähnliche Auffassungen habe. Aber gerade wegen meiner Überzeugungen denke er, es sei richtig, (…) dass Menschen mit humaneren Auffassungen an den Brennpunkten seien, denn dann könnte man vielleicht Operationen auf etwas andere Weise durchführen. In dieser Zeit gab mir das eine Antwort auf meinen inneren Konflikt. (…) Also sagte ich: „Okay, wenn es so ist, dann werde ich Offizier. Ich werde Soldaten erziehen oder trainieren, auf andere Weise zu handeln“, nicht wie die Geschichten, die wir hier im Seminar gehört haben. Und ich blieb bei der Armee. Ich beendete einen Durchlauf, (…) danach musste ich entscheiden, ob ich Bildungsoffizier sein wollte (…) oder ob ich an einer Operation teilnähme, bevor ich zum Offizierskurs ging. (…) Ich entschied mich für die operationelle Tätigkeit in der Region Jenin. In Bezug auf mein Gewissen waren das, emotional und persönlich, die vier schwersten Monate meines Lebens. Es war die Zeit der Intifada und bis heute habe ich Träume aus dieser Zeit. Die Routine bestand darin, am Abend zu einer ziemlich gefährlichen Operation rauszugehen, von der man auch vielleicht nicht zurückkehrte, man schloss sie ab und kam gegen Morgen zurück zur Basis zum Schlafen. Am Mittag stand man auf und bereitete sich wieder für die nächste Aktion vor, stieg auf Jeeps, drang wieder ins Flüchtlingslager ein, ins Herz von Jenin. Man konnte nicht wissen, ob man unverletzt zurückkehrte. Jede Woche, fünf Tage lang. Noch heute träume ich davon. Das Absurde war, dass sich das schrecklich nah an meinem Zuhause abspielte. Mein Kibbutz ist 20 Kilometer von Jenin entfernt und ich fuhr an den Wochenenden nach Hause, war bei der Familie, im Schwimmbad usw. Es war paradox. Es war sehr schwer, diese Realität zu erklären, denn meine ganze Familie hatte keine Ahnung, was da hinter dem Zaun passierte, quasi 20 Kilometer entfernt. Das war eine sehr schwere und komplizierte Zeit für mich, währenddessen, aber vor allem danach, als ich zurückschaute.

Nach vier Monaten besuchte ich dann den Offizierskurs (…) und dann diente ich für ein ganzes Jahr als Offizier im Training für neue Soldaten. (…) mit dem Gefühl, dass ich neuen Rekruten eine etwas andere Armee zeigte, ein anderes Beispiel gäbe, lehrte, auf etwas moralischere oder humanere Weise zu handeln. Es wurde auch von mir verlangt, mit ihnen einige Aktionen in der Region Ramallah durchzuführen.

Dann kam eine Stufe, auf der ich entscheiden musste, wie es weitergehen soll und sie luden mich zu einem Gespräch. Ich hatte noch ein Jahr bei der Armee vor mir, denn ich hatte mich für 4 ½ Jahre verpflichtet. Sie sagten mir, dass ich Kommandeur des leitenden Teams in der Einheit werden solle. Das bedeutete, viele Operationen in den Gebieten zu leiten, Nacht für Nacht. Plötzlich geriet ich wieder in diesen persönlichen Konflikt, kollidierte mit Vorstellungen, an die ich glaube, ich fühlte Zweifel, ob wir da sein müssten, oder da militärisch handeln müssten. Ich wollte nicht Kinder oder Familien mitten in der Nacht wecken oder an Checkpoints stehen. Aber wieder gelang es ihnen, mich zu überzeugen, wieder erhielt ich eine Antwort, dass es, gerade weil es solche schweren Sachen gibt, wichtig ist, dass im Einsatz jemand steht, der anders handelt. Wie gesagt, in jener Zeit konnte ich mich selbst überzeugen. Für ein ganzes Jahr war ich Offizier einer exekutiven Einheit. Danach war ich frei, die Armeezeit war vorbei. Meine Vorgesetzten taten alles, um mich zu überzeugen, weiterzumachen, aber mir war klar, dass ich einfach nichts mehr mit der Armee zu tun haben wollte, nicht wollte, dass sie in meiner Lebensrealität so bedeutsam und dominant ist. Aber leider ist das in Israel nicht möglich. Auch nachdem du den Militärdienst beendest, musst du im Reservedienst weitermachen, einen Monat pro Jahr. Eine der Fragen, die hier im Seminar am Anfang aufkamen, war: „Wo begegnet dir der Konflikt in deinem Alltag?“ Ich beendete 2010 den Militärdienst, das ist neun Jahre her und trotzdem empfinde ich, dass diese Realität in meinem Leben jeden Tag präsent ist. Diese Spannung: Jetzt gleich werden sie mich zur Armee rufen, um Dinge zu tun, an die ich nicht glaube oder bei denen ich sterben kann. Ich träume von Dingen, die ich gemacht habe und die von mir verlangt werden könnten. Die Lebensrealität, die dort existiert, die ich vielleicht erzeugt oder beeinflusst habe, bei Menschen, die heute deswegen mit irgendeinem Trauma aufwachsen, bereitet mir Schmerzen. (…) Ein Schmerz, wie eine Narbe, die ich auf meinem Körper, auf meiner Seele fühle den ich auch für mich fühle, d.h. ein Schmerz darüber, dass ich in so einer Realität lebe. Mich belasten die Militäraktionen, die ich durchführen musste, und ich sehe noch tausende israelische Jugendliche, im Prinzip alle Israelis, von denen verlangt wird, unter diesen Vorzeichen zu leben. Das sind Zeichen von Militarismus und Macht. Es gibt Menschen, die kommen da wirklich seelisch krank raus mit posttraumatischen Belastungsstörungen. (…) Es gibt niemanden, für den das keinen Einfluss auf sein Leben hat, darauf wie er sich verhält, seinen Eltern gegenüber und in seiner Partnerschaft oder auf der Straße. (…) Ich empfinde große Traurigkeit darüber, dass fast die ganze israelische Gesellschaft diese Erfahrung macht, die wir als Reifezeit beschreiben, die uns Instrumente für Persönlichkeitsentwicklung und Führungsqualität gibt. Doch wir vergessen, dass sie auch Narben auf der menschlichen Seele hinterlässt und entmenschlichende Ideen in dir erzeugt,

wie die Vorstellung: „Du bist stärker als Andere, du bist mehr wert als Andere, du hast Macht über sie, Gewalt ist ein Weg, der Dinge löst“.

Die Operation Protective Edge („Starker Fels“) 2014/2015 in Gaza war der letzte Wendepunkt in meinem Leben. Ich hatte eine wirkliche Vertrauenskrise mit der israelischen Führung und dem Staat als Ganzem. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich jeden Moment wegen politischer Entscheidungen aus meinem Leben reißen könnten, (…) um mich in Uniform in einen Hubschrauber oder in einen Jeep zu setzen und zu einer Operation zu schicken. Ich habe das tatsächlich durchlebt, sowohl emotional, als auch physisch. Ich wollte nicht mehr, dass sie über mich bestimmen, ich wollte keine Sachen machen, an die ich nicht glaube. Ich fuhr für 2 ½ Wochen ins Ausland, um zu verhindern, dass sie mich überhaupt einziehen. Im Prinzip floh ich. Als ich zurückkam, teilte ich ihnen mit, dass ich in der Einheit, bei der ich mich im Reservedienst befand, nicht weitermache.

Für die israelische Gesellschaft ist das ein inakzeptabler Schritt, der unter Umständen auch als Verrat angesehen wird. Ich fürchtete mich sehr vor diesem gesellschaftlichen oder sogar familiären Preis. Aber ich fühlte eine Stimme in mir, die viel stärker war, als der Status, bei der Armee zu sein. Auch der Preis, Freunde zu verlieren, war mir egal. (…) Ich traf mich dann mit dem Vorsitzenden der „Offiziere für seelische Gesundheit“ . Er sagte mir: „Du bist an einen Punkt gekommen, wo du in einem Konflikt bist, den du nicht mehr lösen kannst. (…) Du hast keine weiteren beruhigenden Argumente mehr dafür, so weiter zu machen und das ist in Ordnung. Ich kann dich entweder jetzt aus der Armee entlassen, oder du wirst auch Offizier für seelische Gesundheit. Dann kannst Du sehen, wie du von der therapeutischen Seite arbeiten kannst.“ In dieser Phase erkannte ich, dass ich zwischen dem Armeedienst bei den härtesten Kämpfern und dem endgültigen Absprung noch einen Übergang brauchte. In den letzten fünf Jahren war ich in einer Reserveeinheit Offizier für seelische Gesundheit. Das bedeutete, nur wenige Tage im Jahr Reservedienst zu leisten und etwas darüber zu lernen, was Posttrauma ist, welche Antwort man einem Soldaten geben kann, der eine posttraumatische Belastungsstörung erlebt. Doch obwohl ich während der letzten Jahre nichts mehr mit exekutiven Aktionen zu tun hatte, hatte ich noch immer das Gefühl, dass sie mich jeden Moment rausziehen können. Deshalb entschied ich mich vor einem halben Jahr, den ziemlich schwierigen Prozess zu beginnen, ganz aus dem militärischen System auszusteigen. Das ist nicht einfach, besonders wenn du Offizier warst. (…)

Das System mag sowas nicht, für sie schwächt es das System. Aber ich kam schon vor längerer Zeit zum Entschluss, dass ich meine Energien und meinen Einsatz für die Welt nicht dort investieren will. Jetzt engagiere ich mich in meinem Alltag sozial, um eine andere Realität zu schaffen, in Jerusalem und in Beer Scheva, um mit meiner Energie Liebe und Gutes zu unterstützen, nicht den Krieg. Das war´s „in Kürze“ (lacht).

S. W.: Danke. Kannst du noch erzählen, was dich hierhergebracht hat?

D.R.: Warum ich kam, hat viel mit meiner militärischen Erfahrung, die ich gerade beschrieben habe, zu tun. (…) In den letzten Jahren suchte ich verstärkt nach Möglichkeiten, mich für die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern*innen zu engagieren. (…) Als sie hier erzählten, woher sie kommen (…), fiel es mir schwer, ihnen mitzuteilen, dass ich in jeder einzelnen Stadt und in jedem Dorf, in dem sie wohnen, schon war. (…) Stets trug ich die Militäruniform, das Gewehr, die Macht. (…) Hier einem jungen Palästinenser in meinem Alter gegenüber zu stehen, in dessen Zuhause ich selbst vor zehn Jahren eingedrungen war und ihn mitten in der Nacht geweckt hatte, ihn und seine Familie und seine Augen voller Angst zu sehen und meine Augen zu sehen, voller innerer Angst, ist sehr schmerzhaft. Jetzt hier zu sitzen und auch nur diese Geschichte zu erzählen, seine Geschichte zu hören, das tut so weh. (…) Wie haben die unzähligen Nächte, in denen ich in Häuser ging oder Aktionen durchführte (…) das Leben von Kindern beeinflusst und mit welchem Trauma wachsen sie auf? Hier hatte ich plötzlich eine sehr starke, traurige und schmerzhafte Erkenntnis, als ich aus erster Hand hörte und verstand, wie viele solcher Kinder schon seit Jahren und jetzt noch in einer solchen Realität aufwachsen. (…) Es gibt keinen humanen Weg, um drei Uhr nachts in das Haus einer Familie einzudringen, egal ob du kommst, um einen Familienangehörigen zu suchen, den du zu einem Verhör holen willst, oder ob du dort Waffen suchst, oder einfach, um ins Haus zu gehen, weil es von dort einen guten Ausblick gibt, oder weil man Druck auf einen anderen Familienangehörigen ausüben will, der in einem anderen Dorf oder einer anderen Stadt wohnt. Egal, was der Grund ist, es gibt keinen Weg, der keinen Schaden anrichtet und bei der anderen Seite nicht Wut oder Groll erzeugt. Denn du dringst in den persönlichsten und intimsten Ort einer Familie ein. Du weckst sie mitten in der Nacht.

Eine Erinnerung geht mir nicht aus dem Kopf: die Zimmer von kleinen Kindern. Du musst auch dort hineingehen, um Dinge zu suchen, aber dort Bilder von Mickey Mouse an den Wänden zu sehen und Barbies (…) das tut mir einfach weh, diese Realität, die mir aufgezwungen wurde und die noch mehr ihnen aufgezwungen wurde. Bevor ich zum Seminar kam, stellte ich mir diesen Moment vor – Augen, die sich treffen – und alles, was ich wollte, ist, dass sie erfahren, dass hinter dieser Uniform und diesen Augen David ist. Ich wusste nicht, wie es sein würde, Palästinenser*innen hier zu treffen. Ich wusste nicht, ob sie mit mir reden wollen oder ob sie sehr wütend auf mich sein würden. Es kann sein, dass es diese Gefühle bei ihnen auch gab, aber ich habe etwas anderes gefühlt, ich empfand ein Mitgefühl von ihnen oder Verständnis oder sogar Vergebung. (…) Als ob sie mir verzeihen.

S.W.: Haben sie das ausdrücklich gesagt, oder ist das deine Schlussfolgerung aus ihrer Reaktion?

D.R.: Ich hatte mehrere persönliche Gespräche und einer der Teilnehmenden aus meiner Gruppe sagte mir nach meinem Bericht, dass er mich um Verzeihung bäte. Ich verstand nicht, warum. Er sagte, dass er in Soldaten immer den Teufel gesehen habe und nicht geglaubt habe, dass es Soldaten gibt, die auch solche Ansichten hätten oder in solcher Weise handelten. (…) Ich glaube, die Tatsache, dass ich hierhergekommen bin, alles sehr offen erkläre und auch dass ich schon nicht mehr zur Armee will, wurde von ihnen mit einer Art Verständnis oder Wertschätzung angenommen. Also sagte mir dieser Teilnehmende, dass er mich um Verzeihung bitten will. Ich habe ihm gesagt, für mich ist es genau umgekehrt. Für mich war das ein Zeichen großer Stärke und in manchen Phasen äußerst schmerzhaft. Denn bei jeder Geschichte, die ich von den Palästinenser*innen hörte, sah ich mich selbst darin auf der anderen Seite. Es war eine einmalige Erfahrung.  Ich glaube, dass es eine Erfahrung ist, die etwas korrigiert oder in gewissem Sinne heilt. (…) Für mich ist diese zwischenmenschliche Verbindung etwas außerordentlich Kraftvolles.

S.W.: Vielen Dank, was du erzählst, ist sehr bewegend. Ich möchte noch fragen, was du gelernt hast oder was sich für dich verändert hat ?

D.R.: Ich habe eine Menge über eine Lebensrealität gelernt, die ich nicht kannte. (…) Es war faszinierend, die Vielfalt der Meinungen und Weltanschauungen auch innerhalb der israelischen Gruppe zu sehen. Wir hatten äußerst intensive Diskussionen darüber, ob wir eine gemeinsame nationale Haltung bewahren müssen und was jede*r Einzelne denkt, es war sehr vielfältig. Und es war faszinierend zu sehen, dass es diese Auseinandersetzungen auch bei den palästinensischen Freund*innen gibt, das heißt, dass letztlich jeder von uns eine persönliche Erfahrung und Meinung hat. (…)

Ich möchte anbieten, Soldat*innen mit ähnlichen Erfahrungen wie meine hierher einzuladen. Ich bin der Meinung, dass dies zur Heilung einer Gesellschaft beiträgt.

(…) Danke für die Möglichkeit, Teil dieses Seminars zu sein. Ein so langer und so kraftvoller Prozess wirft viele Fragen auf, sogar die Fragen, ob solch ein Seminar das Richtige ist, ob es eine Veränderung schafft, wie seine Wirkung ist, oder ob das nur so eine Blase ist, die Erwartungen erzeugt. Ich habe darauf keine Antwort, aber ich habe das Bedürfnis euch zu danken für die Chance, hier zu sein, die Anderen zu treffen und zu reden, wütend zu sein und zu lachen. Das ist für mich eine Lebenserfahrung, für die ich sehr dankbar bin.