Rotem Z.* (Name geändert) ist 16 Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern und drei jüngeren Brüdern in einem Kibbuz. Ihr Vater kam aus Argentinien nach Israel, die Familie ihrer Mutter aus Ungarn, wo ihre Großmutter den Holocaust überlebte. Mit Schulamith Weil spricht sie darüber, wie das Seminar sie grundlegend verändert hat, bisher Gelerntes in Frage stellt und warum sie nun an ihrem bisherigen Plan, zur Armee zu gehen, zweifelt.

Rotem Z.: Meine Eltern sind für alles offen. Trotzdem befürchteten sie, dieses Seminar, das sich mit vielen politischen Meinungen und Fragen beschäftigt, die für mich vorher kein Thema waren, könnte mir vielleicht Gedanken vermitteln, von denen sie nicht wollen, dass sie mir vermittelt werden. Aber weil sie so offene Menschen sind, sagten sie: „Okay, fahre hin und bilde Dir Deine eigene Meinung.“ (…) Am Anfang klang mir das Thema des Seminars nach etwas, was mich nicht betraf, damit hatte ich mich noch nie beschäftigt, wusste nichts darüber. Dann dachte ich gründlicher darüber nach und entschied mich, mitzufahren.(…)

Schulamith Weil: Was hast Du von diesem Seminar erwartet?

Am Anfang hatte ich keine Ahnung davon, was auf mich zukommen würde. Es gab ein Vorbereitungsseminar in Beit Jala. Das liegt in den „Gebieten“ (Anm.: gemeint sind die israelisch besetzten palästinensischen Gebiete, hier die Westbank), ich war vorher noch nie dort gewesen. Ich dachte, dass das vielleicht eine Art Gehirnwäsche sein wird, dass sie mir vorschreiben würden, was ich denken soll und ich nicht die Freiheit für meine eigene Meinung hätte. Aber dann gab es eine große Vielfalt verschiedener Meinungen, die Leute waren sehr unterschiedlich, hatten ganz verschiedene Gedanken und ich verstand, dass nicht erwartet wurde, dass ich wie eine Linke denke. Ich sollte nur „offen“ sein, und das gefiel mir sehr.

S.W.: Wie war es für Dich, zum ersten Mal in die „Gebiete“ zu kommen? Wie war die Fahrt dorthin?

R.Z.: Wir sind durch solche Kontrollpunkte (Checkpoints) gefahren. Ich kam mir vor, als ob ich etwas Illegales täte. Das war aufregend, irgendwie gefährlich. Als wir dann dort ankamen, hatte ich nicht das Gefühl, an einem anderen Ort zu sein, es sah aus wie in Israel, normal, nicht anders.

S.W.: Kannst Du jetzt erzählen, was Du hier im Seminar erlebt hast?

R.Z.: Als ich hierher kam, kannte ich weder die israelischen Mädchen, noch die palästinensischen Mädchen und die arabischen israelischen Mädchen. Ich dachte nicht, dass ich mich mit ihnen in dieser Weise anfreunden würde. Das Seminar ist in meinen Augen perfekt. Die Bedingungen in Deutschland sind sehr gut, wir haben den ganzen Tag inhaltliche Workshops und lernen etwas, das gefällt mir. Die Inhalte waren schwer für mich, sie veränderten mich ganz und gar. Ich kam hierher im Gedanken zur Armee zu gehen. Ich wusste nicht wirklich, was los ist, ich habe mich in Bezug auf die Realität selbst belogen. Ich lebe in einem Kibbuz, einem Dorf, ich bin bei meinen Freunden, meiner Familie und mit der Gemeinde und ich erfahre nicht alles, was draußen passiert. Und dann reist du hierher und du bekommst einen Schock, denn plötzlich gibt es Geschichten, die du nie in deinem Leben gehört hast. Ich wusste nicht, dass es die Besatzung gibt und dass die Armee gewalttätig gegen Menschen vorgeht. Ich wusste nichts über Gaza und ich wusste nicht, dass die Palästinenser kein Wasser und keinen Strom haben. Ich kannte alle ihre Ansichten und ihre Gedanken nicht. Das verändert dich. Dieses ganze Seminar hat mich vollkommen verändert. Und jetzt soll ich irgendwie in mein früheres Leben zurückkehren, in diese Blase? Ich weiß nicht, wie ich das machen werde. Alle meine Freunde gehen zur Armee – wie soll ich jetzt zur Armee gehen? Ich habe schon mit meinen Eltern gesprochen, habe ihnen gesagt, was ich gegenüber der Armee fühle, dass ich nicht weiß, ob ich hingehe oder nicht, nach allem, was ich hier höre. Sie gerieten unter Druck, denn das ist etwas Ungewöhnliches.

S.W.: Wie haben Deine Eltern reagiert?

R.Z.: Sie meinten, „Schon gut, beruhige dich, lass uns darüber reden, wenn du wieder zu Hause bist“.

S.W.: Das muss ja auch nicht jetzt gleich entschieden werden.

R.Z.: Ja, ich habe noch zwei Jahre Zeit. Aber es ist bei uns nicht normal, nicht zur Armee zu gehen. Meine bisherigen Probleme: wie sehe ich aus, was ziehe ich an, alle möglichen Sachen mit Freunden und Freundinnen, erscheinen plötzlich ganz klein und unwichtig im Vergleich zu den Dingen, die ich hier hörte. Auf einmal fehlt meinem Leben der Sinn. Ich fühle, dass ich etwas tun muss, um diese Situation zu verändern.

S.W.: Hattest Du vor dem Seminar ein bestimmtes Bild von den Palästinenserinnen aus den „Gebieten“ und von denen, die in Israel leben?

R.Z.: Ich hatte mir vorgestellt, dass die Palästinenserinnen aus den „Gebieten“ alle mit Kopftuch kommen würden, und dass sie verschlossen und still wären. Und am Anfang war das auch so, sie redeten nicht viel, aber irgendwann öffneten sie sich und ich verstand, dass sie sehr klug sind und wirklich außergewöhnlich. Und die Mädchen aus Nazareth, die in Israel wohnen, die hatte ich mir ähnlich vorgestellt, auch mit Kopftuch, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Es sind Leute, die ich im Alltag nicht treffe, mit denen ich nicht zusammen komme. Ich redete nicht einmal über sie und den ganzen Konflikt, das war kein Teil meines Lebens. Und jetzt werde ich mich immerzu damit beschäftigen. Ich kann nicht nach Hause gehen und vergessen, was ich hier gelernt habe. Einige von uns werden das tun. Die kehren in ihr Leben zurück, zu den Eltern, der Gemeinschaft, und tun, als ob alles in Ordnung wäre. Aber ich bin nicht so ein Mensch. Ich kann nicht einfach in mein Leben zurückgehen, das würde bedeuten, dass es mir nichts ausmacht, was in diesem Land passiert.

S.W.: Hast Du schon eine Idee, was Du tun wirst?

R.Z.: Ich will weiter in diesem Projekt aktiv sein, mehr hören und lernen und auf weitere Treffen gehen. Das Programm wird mich begleiten, es kann mir helfen, eine Aktivistin zu werden. Ich will noch mehr lernen und meine Meinung weiterentwickeln. Vielleicht gehe ich zu Demonstrationen, ich weiß es noch nicht. Vielleicht werde ich an den Projekten teilnehmen, über die wir hier die ganze Zeit sprechen: Den Blog der Organisation und die Homepage gestalten und mit den Palästinenserinnen in die Schulen gehen. Ich will Einfluss nehmen und mich nicht mehr vor den Problemen drücken.

S.W.: Du hast gesagt, bevor du in Verbindung zu diesem Seminar kamst, hättest du nicht gewusst, dass es die Besatzung gibt. Wusstest du gar nichts darüber, oder hattest du eine andere Vorstellung davon, was da passiert?

R.Z.: Wie die Kinder in meiner Umgebung wusste ich, dass es einen Konflikt gibt. Dass es Palästinenser und Israelis gibt, die nicht zusammen leben, sondern sich bekämpfen. Sie schicken uns Bomben und Terroristen und wir schlagen gegen sie zurück. Aber ich hatte keine Ahnung davon, dass sie in den „Gebieten“ unter israelischer Besatzung leben. Ich wusste, dass dort Araber leben, aber nicht, dass Israel, Soldaten, die Armee sie beherrschen und mitten in der Nacht in ihre Häuser eindringen und alle aus ihren Zimmern holen, dass sie sie verhaften, auf sie schießen.

S.W.: Dachtest Du, dass die „Gebiete“ ein Teil von Israel sind, oder glaubtest Du, dass sie quasi ein anderes Land seien?

R.Z.: Ich wusste, dass die „Gebiete“ ein Teil Israels sind, dass die Palästinenser quasi innerhalb Israels leben, dass es darüber aber irgendwie Streit gibt, dass wir nicht wissen, ob sie zu Israel gehören oder nicht, das war es, was meine Eltern und Lehrer mir auf meine Fragen antworteten. Sie erklärten es mir nicht gründlich: „Das ist kompliziert“, sagten sie. (…) Als ich hierher kam, erlebte ich in der Mitte des Seminars einen Moment, in dem ich erkannte, dass wir in einer traurigen Realität mit diesem Konflikt, diesem Kampf, diesem ganzen Krieg leben. Ich fiel einfach auseinander, ich konnte mich nicht beruhigen, das war erschütternd, aufrüttelnd. Es war wie in einer Realität zu leben, in der es kein Licht am Ende des Tunnels gibt. Das empfand ich ganz stark und ich sehe nicht, dass dieser Konflikt in der nächsten Zeit gelöst werden kann. Ich muss daran denken, dass es Menschen gibt, für die jeder Moment dieses Konfliktes auf ihre Kosten geht. Ich kann in Glück und Reichtum leben, Spaß haben, bis ans Ende meines Lebens, aber sie leiden währenddessen jeden Tag. Das schockiert mich, das macht mich fertig. Ich glaube, deshalb erzählen sie uns Kindern nichts davon, sie wollen unsere Unschuld nicht zerstören. (…) Es ist traurig, dass Jugendliche in meinem Alter keine Ahnung davon haben, Jugendliche, die bald in die Armee eintreten sollen. Daher treten sie wie Blinde ein, gehen hinter allen anderen her, wissen überhaupt nicht, was sie tun.

S.W.: Du sagtest, du hättest daran gedacht, in die Armee zu gehen, weil es wichtig sei. Hattest Du eine Vorstellung davon, was Du dort tun würdest?

R.Z.: Das Land verteidigen. Weil ich gut in der Schule bin, besonders in Mathematik, und weil ich Arabisch lerne, wurde mir immer gesagt, dass ich bestimmt eine gute Aufgabe in der Armee bekommen würde. Deine ganze Jugend hindurch führen sie dich zur Armee hin. Sie sagen dir, du wirst dort gute Dinge lernen, du wirst bei der Aufklärung eine wichtige Aufgabe finden. Du kannst zu den Aufklärungssoldaten gehen oder zu den Fliegern. Es gibt Leute, die vielleicht nicht so gut in der Schule sind, aber stark. Denen sagen sie, geht zu den Kampftruppen. Zu den Kämpfern zu gehen, das ist es, worauf sie uns in unserem Alter ausrichten. (…) Ich wollte eine Arabistin sein. Eine die hilft, alle möglichen Hinweise auf Anschläge zu finden. Aber jetzt erscheinen mir alle diese Dinge unsinnig. Unsere Armee spielt keine gute Rolle. Ich denke nicht, dass sie aufgelöst werden sollte, ohne Armee wären wir nicht hier. Es gäbe keinen Staat und keinen, nennen wir es mal teilweisen Frieden in meiner Umgebung, wir hätten nicht das Leben, wie wir es kennen. Wir brauchen die Armee, aber sie muss ihren Weg ändern, die Besatzung beenden, keine Häuser mehr sprengen, den Palästinensern eine Existenz ermöglichen.