David R.* nahm 2019 am Allgenders-Seminar teil. Seinerzeit berichtete er über seine Zeit bei der Armee, die Erfahrungen im Seminar und seinen Plan, die Verbindung zur Armee vollständig aufzugeben und den Reservedienst zu verweigern (siehe Interview im Jahresbericht 2019). Mehr als ein Jahr später sprach David erneut mit Schulamith Weil.
S.W.: Was machst du gerade? Was arbeitest Du?
D.R.: Ich arbeite seit zwei Jahren im Botanischen Garten in Jerusalem. Ich leite die Abteilung „Gemeinschaft und Nachhaltigkeit“. (…) Die Idee des Arbeitsbereichs ist, herauszufinden, wie der Botanische Garten als Ort auf das Leben der Menschen in der Stadt Einfluss nehmen kann – auch außerhalb der Zäune des Gartens. Wir wollen eine vielfältige Gemeinschaft in den Garten bringen, aber auch rausgehen und in die Gesellschaft hineinwirken. (…)
Jerusalem ist sehr vielfältig. Es hat 900.000 Einwohner*innen, ungefähr 300.000 gehören der orthodoxen Gesellschaft an, 300.000 der arabischen Gesellschaft, die meisten von ihnen leben in Ost-Jerusalem und weitere 300.000 Menschen, die zum Teil nicht religiös sind und zum Teil konservativen Gemeinschaften angehören. Es ist auch ein Ort großer sozialer Gegen-sätze, Armut und Reichtum existieren eng nebeneinander.
Die ganze Komplexität, die sich in dieser Stadt konzentriert, ist einer der Gründe, warum ich mich entscheiden habe, hier zu leben, hier aktiv zu werden und zu versuchen, eine Veränderung zu bewirken.
Der Botanische Garten ist sozusagen ein ‚neutraler‘ Ort, politisch und religiös, daher kann er ein Treffpunkt sein. An Ferien- und Feiertagen sieht man dort neben arabischen Familien aus den Vierteln von Ost-Jerusalem auch viele orthodoxe Familien. Nicht an jedem Ort fühlen sich alle wohl, manchmal nicht einmal auf den städtischen Plätzen oder in den öffentlichen Parks. Wir versuchen, den Ort für möglichst viele Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen: Wir haben eine arabische Bildungsabteilung mit Führungen in arabischer Sprache für Gruppen aus Schulen und Kindergärten aus den ostjerusalemer Bezirken und ebenfalls Führungen für Gruppen aus den orthodoxen Vierteln.
Eines der größten Programme, die ich umsetze, ist der ‚Bildungsgarten‘: Wir schaffen pädagogische Gemüsegärten mit hölzernen Hochbeeten und einem Bewässerungssystem in Schulen in Ost-Jerusalem und in orthodoxen Schulen. Wir zeigen den Lehrer*innen und Erzieher*innen, wie sie den Kindern Themen wie Natur, Landwirtschaft, Ernährung und Gesundheit näher bringen können. In meinem Team gibt es auch einen arabischsprachigen Koordinator, der sowohl in Ost-Jerusalem als auch in Ramallah wohnt. (…)
S.W.: Gestaltest du das Programm so, dass es für alle Bevölkerungsgruppen auch in Ost-Jerusalem offen ist oder ist das auch offiziell so gewollt?
D.R.: Im Gegensatz zu anderen Organisationen ist das im Botanischen Garten so gewollt. Und das ist mir und auch meinem Team sehr wichtig. Das ist der Geist, den ich in unsere Abteilung und in die Projekte bringe und einer der Gründe, warum ich mich entschieden habe, nach Jerusalem zu ziehen und hier zu arbeiten.
S.W.: Lass uns zum Jahr 2019 zurückkehren. Erinnerst Du dich noch, wie Du dich nach dem Seminar gefühlt hast? Wie ging es dann für dich weiter?
D.R.: Für mich war das eine sehr starke und bedeutsame Erfahrung. Sie war genau das was ich brauchte, da ich mich seinerzeit auf der Suche nach Möglichkeiten für Partnerschaften mit Palästinenser*innen befand und gleichzeitig dabei war, meine Beziehung zur Armee und zum Konflikt im Allgemeinen aufzuarbeiten.
Zwei Monate, nachdem wir aus Deutschland zurückkamen, flog ich zu einem weiteren Seminar nach Toronto, das „Befreiungsreise“, bzw. auf Englisch „Peace of mind“ heißt. Es wird von einer Organisation angeboten, die sich mit postraumatischen Störungen von Soldat*innen befasst. Sie laden Einheiten, die gemeinsam beim Militär gedient haben, zu einwöchigen Seminaren ein, um die emotionale Erfahrung des Militärdienstes zu verarbeiten. Meistens geschieht das viele Jahre danach. Wir sind 14 Jahre nach unserem Militärdienst hingeflogen. Ich kam zu diesem Treffen mit meinen Kameraden, die zum Teil sehr weit rechts stehen; schon damals in der Armee hatten sie andere Meinungen. Die Erfahrung aus dem Seminar in Deutschland gab mir eine andere Motivation, teilzunehmen.(…) Das Seminar in Toronto gab uns einen sicheren Raum, unsere Erfahrungen zu teilen. Die Soldaten erzählten von ihren Einsätzen und davon, wie sehr sie die Erfahrung bis heute begleitet und schmerzt.
Die Armee trainiert dich darauf, schnell und mit Härte zu handeln, auf dich aufzupassen und irgendwelche Aufträge zu erfüllen. Dann verlässt du die Armee, aber diese Gewohnheiten bleiben im zivilen Leben, wo diese Reaktionen nicht mehr passen. Meine ehemaligen Kameraden erzählten, wie sich das in ihrem Leben, sogar in ihren Partnerschaften ausgewirkt hat.
Ich hatte das Gefühl, dass ich nach der Begegnung mit den Palästinenser*innen, wo ich sehr harte und schmerzhafte Dinge mitgeteilt und erfahren habe, anders zu diesem Treffen in Toronto kam. Ich hatte sehr viel beizutragen: meine eigene Erfahrung als Soldat und die Perspektive der Palästinenser*innen, von der ich in Walberberg erfahren hatte.
Während des Seminars in Deutschland war ich noch im Reservedienst. Das Seminar in Walberberg hat mich darin bestärkt, in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten und die Armee aus meinem Leben zu entlassen. Die größte Schwierigkeit für mich war, die sozialen Kosten dieser Entscheidung gegenüber der Familie und besonders den Kameraden in der Armee zu tragen und zu sagen, „Ich höre mit dem Reservedienst auf“. Aber die Erfahrungen in Walberberg haben mir die Kraft gegeben, darüber mit meinen Armeekameraden zu sprechen. Am Ende eines langen Prozesses habe ich nun vor einem Monat die Armee verlassen. Ich stehe heute zwischen den Stühlen, aber sie können mich nicht mehr plötzlich einberufen.
S.W.: Hast du beim Seminar in Kanada von deinen Erfahrungen in Walberberg erzählt? Hatte das einen Einfluss auf euer Gespräch?
D.R.: Es hat meine Kameraden sehr interessiert, denn es verband sich mit ihren Geschichten von Begegnungen mit Palästineser*innen, Dingen, die sie getan haben, die sie bedauern und sie bis heute beschäftigen. Ich glaube, es öffnete auch ihnen eine Art Fenster zu einer Begegnung mit den Palästinenser*innen, die sie bisher nur in Uniform getroffen haben. (…)
S.W.: Hast du noch Kontakt zu anderen Teilnehmenden aus dem Seminar?
D.R.: Es gab einige Treffen der israelischen Gruppe, wir haben versucht, in Verbindung zu bleiben, aber dann kam Corona. Wir trafen uns online, aber das war eine Herausforderung. Ich war ein bisschen in die Demonstrationen, die seit fünf Monaten im Land stattfinden, involviert. Ich wohne nicht weit von der Balfourstreet, ich ging oft hin und wir sprachen viel darüber. (…) Schon seit vier Jahren gehe ich am Gedenktag zu der gemeinsamen Zeremonie von Combatants for Peace, dieses Jahr fand sie online statt, aber das sieht nur, wer ihre Aktivitäten verfolgt. Es gab in letzter Zeit wieder Angriffe auf palästinensische Olivenhaine, da haben sie versucht, Proteste zu organisieren. Ich kenne auch Aktivist*innen, habe es aber noch nicht geschafft, selbst dort aktiv zu werden.
Es ist mir nicht richtig gelungen, eine Art Fortsetzung des Seminarprozesses zu schaffen. Wobei ich denke, dass die Verweigerung des Reservedienstes und meine aktuelle Arbeit nicht unwesentlich sind. Aber mit den palästinensischen Teilnehmenden in persönlicher Verbindung zu bleiben oder gemeinsame Projekte zu schaffen, das sind Sachen, die ich zu meinem Bedauern nicht geschafft habe.(…) Wir wollen schon seit einigen Monaten ein Treffen mit den Palästinenser*innen organisieren, irgendwo in der Natur, wo alle hinkönnen. Ich hoffe, dass es noch geschehen wird, vielleicht am Toten Meer.
Kurz nach dem Seminar haben wir über gemeinsame Treffen gesprochen, danach verschob sich der Fokus hin zu uni-nationalen Prozessen der israelischen Gruppe um die Gewaltfreie Kommunikation herum. Je weiter das Seminar zurückliegt, umso schwerer wird es, da die Realität der anderen weniger präsent ist. Ich bin mit einigen bei Facebook in Kontakt, hin und wieder schicken wir Bilder und folgen einander. Das zeigt, dass unsere Verbindung noch immer existiert. Es ist nicht selbstverständlich, bei Facebook befreundet zu sein, zu liken, Kommentare zu schreiben, da es öffentlich sichtbar ist.