Ayelet* (Name geändert), 29, arbeitet bei einer Frauenrechtsorganisation im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Ihr Elternhaus ist sehr religiös und ihr Vater lebt aus ideologischen Gründen in einer Siedlung. Ihre Vorfahren kamen aus Angst vor Antisemitismus und als Unterstützer des Zionismus nach Israel. Ihre Familie sieht es nicht gerne, dass sie säkular und antizionistisch lebt. Sie sagen zu ihr: „Wenn du nicht an das gelobte Land glaubst, bist du keine Jüdin“.  (…)

Das Interview führte Felix Litschauer.

F.L.:  Kannst du ein bisschen über dich und deinen Hintergrund erzählen?

Ayelet R.: Ich stamme aus einer religiösen Familie. Meine Eltern sind geschieden. Die Familie meines Vaters sind hauptsächlich Siedler. Meine Großmutter und meine Tante sind Teil einer politische Bewegung, die sich „Frauen in Grün“ nennt, eine Gegenbewegung zu den „Frauen in Schwarz“, eine israelische Organisation gegen die Besatzung, die 1988 gegründet wurde. Die „Frauen in Grün“ verbreiten die Idee, dass Juden überall in Israel, einschließlich dem Westjordanland, leben sollen. Es sollte keinen palästinensischen Staat geben und sie unterstützen die Siedlerbewegung. In meiner Kindheit – also während der zweiten Intifada – ging ich mit meiner Tante und Großmutter zu sehr vielen rechten Demonstrationen. Eine meiner ersten Erinnerungen daran sind Proteste um einen Hügel in der Nähe von Efrat, einer Siedlung in Gush Etzion, den die Siedler besetzen wollten. Es gab politische Auseinandersetzungen mit der so genannten Stadtverwaltung dort, also gingen wir dorthin. Wir stellten Zelte auf und schliefen einfach auf dem Hügel mit nichts außer einem Generator. Meine Tante fesselte sich dort an einen Pfosten.

Das war meine Kindheit. Dadurch wurde mir eine ganz bestimmte Art von Agenda beigebracht, die auch von meiner Familie mütterlicherseits unterstützt wurde. Die besetzten zwar selbst keine Hügel, aber sie haben solche Aktionen sehr unterstützt. Ich bin in eine Schule gegangen, in der mir beigebracht wurde, dass die ideale Frau in einem Außenposten lebt, neun Kinder hat und im Grunde das Land Israel übernimmt.

F.L.: Wodurch wurde deine Denkweise verändert?

A.R.: (lacht). Ja, was ist da falsch gelaufen? Ich bin mir nicht sicher, wann es angefangen hat … Nun, als meine Großmutter diese wirklich krassen Dinge sagte, wie „Alle Araber wollen uns töten“ und „Sie hassen uns alle und wollen uns im Meer ertränken“, nahm mein Vater mich beiseite und sagte: „Weißt du, das stimmt nicht ganz. Es gibt überall gute und schlechte Menschen.“

Und ich denke, der Feminismus hat einen großen Teil zu meinem Umdenken beigetragen. Es gibt eine Bewegung des orthodoxen, religiösen Feminismus, der als vierte Welle des Feminismus in Israel betrachtet wird. Seit Beginn dieser vierten Welle habe ich mich sehr dafür interessiert und Feminismus wurde Teil meiner religiösen Identität und meiner Identität insgesamt. Und wenn ich dafür kämpfe, gleiche Rechte zu haben, denn  auch in Israel haben Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männer, dachte ich selbstverständlich auch über die Rechte der Palästinenser nach. (…)  Das und die Tatsache, dass ich LGBTQ-Aktivistin (Aktivistin für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Trans- und Queermenschen) geworden bin, hat dazu beigetragen, dass sich meine Ansichten geändert haben. In diesen Kreisen, in denen selbst die Religiösen Kreise eher religiös-links waren, war ich anderen Ideen ausgesetzt.

F.L.: Hast du, bevor Du hierhergekommen bist, schon einmal Palästinenser*innen getroffen? Wie hat es dich beeinflusst, sie hier persönlich zu treffen und ihre Geschichten zu hören?

A.R.:  Ich habe schon zuvor israelische Araber oder israelische Palästinenser getroffen (Palästinenser*innen mit israelischer Staatsangehörigkeit, Anm. d. Red.), aber selbst das waren nie prägende Begegnungen. Das waren Ärzte in Krankenhäusern, Krankenschwestern oder so. Und auf Facebook folge ich ein paar israelischen Palästinensern. Aber es ist nicht dasselbe, wie jemanden zu treffen.

F.L.: Aber Du hattest ihre Geschichten gehört?

A.R.: Eher ihre politischen Ansichten. Ich war überrascht, wie sehr sie sich von Palästinensern aus der Westbank unterscheiden. Sie haben einen anderen Blick auf den Konflikt. Ich hatte das Gefühl, dass ich ziemlich gut über die Situation in der Westbank informiert bin. Ich lese Geschichten, alternative Zeitungen, wir Linke sprechen viel über die beiden unterschiedlichen Narrative. Aber es ist so völlig anders, die Leute tatsächlich zu treffen und es von ihnen selbst zu hören. In der israelischen Linken sprechen wir gerne über Palästinenser, aber nicht mit Palästinensern. Es gibt auch nicht oft die Gelegenheit dazu. Es ist so anders, sich vorzustellen, was die Leute denken, und zu sehen, was sie wirklich denken. Um ein Beispiel dafür zu geben: Ich war schockiert, wie ähnlich wir uns in unseren Ängsten voreinander sind. Eine Palästinenserin erwähnte das Bild von israelischen Soldaten als Monster. Und die Art, wie sie über sie sprach, erinnerte mich sehr an die Art, wie wir über palästinensische Terroristen sprechen. Es war wirklich schockierend. Selbst wenn ich es mir irgendwie vorstellte, wusste ich nicht, wie einige Palästinenser die israelische Armee betrachten. Aber so viele Dinge, die sie sagten, erinnerten mich teils an Menschen zu Hause. Die Art, wie sie über uns geredet haben, ist dem so ähnlich, wie wir über sie reden. Das Stigma, die Angst, die Verallgemeinerung. (…)

F.L.: Gibt es eine bestimmte Situation, die Dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

A.R.: Als einer der Palästinenser die Geschichte seines Onkels erzählte, der ermordet wurde, das war extrem schwer. Ich habe das Gefühl, während dieser Sitzung zählten wir unsere Toten auf beiden Seiten. Wir Israelis sagen uns manchmal „Ok, wenn jemand auf der anderen Seite gestorben ist, dann muss es ein Terrorist gewesen sein und er / sie hat es verdient“.

Jemand der versucht, dich zu töten, tut dir nicht leid. Und wenn dann doch ein Zivilist, stirbt, sagen wir uns: „Was können wir tun? Das gehört zum Krieg dazu.“  Und dann hörst du die vielen Geschichten der Palästinenser*innen und dir wird klar, dass das nicht nur einmal in einer Million von Fällen passiert. Das war kein Fehler oder Missverständnis. Das ist Politik. Oder es ist Teil der Politik, zu ignorieren, dass es passiert. (…) Jedes Mal, wenn jemand der Palästinenser*innen erzählte, dass ihr Onkel oder Cousin verhaftet wurde, fragte ich mich: „Aber vielleicht waren sie Terroristen“ oder „Was sagen sie uns nicht?“. Aber dann hat einer der Palästinenser die Geschichte seiner eigenen Verhaftung erzählt – und ich sehe ihn, ich kenne ihn, ich weiß, dass er kein Terrorist ist, und niemand kann mich davon überzeugen, dass er einer ist. Von da an war mein Verdacht gebrochen, dass sie uns anlügen. (…) Das hat mir die Augen geöffnet.

Am Anfang des Seminars fühlte es sich an, als wüssten wir nicht, ob es eine Lösung oder ob es jemals Frieden geben wird. Und dann sprachen wir am Ende der letzten Woche plötzlich über tatsächliche Lösungen. Das war sehr hilfreich und hat mir Hoffnung gegeben, dass wir tatsächlich etwas tun können und es jemanden gibt, mit dem wir reden können. Denn das ist genau das, was wir in Israel immer hören: Es gibt keinen Partner auf der anderen Seite, und deshalb wird es niemals Frieden geben. Das sagt Bibi Netanyahu die ganze Zeit. Ich sehe hier, dass die Palästinenser normale Leute sind, die Frieden wollen, obwohl sie wütend sind. Und heute sagte einer der Palästinenser, dass sie mehr Möglichkeiten haben sollten, Wahlen durchzuführen und dass ihre Polizei mehr tun müsse, um Gewalt von ihrer Seite zu verhindern. Das war ein Durchbruch für mich, dass sie, nachdem wir Verantwortung übernommen hatten auch Verantwortung zeigten. Ich hatte das Gefühl, dass beide Seiten Verantwortung für den Konflikt übernehmen und das freute mich. (…)

F.L.: Was denkst du wird passieren, wenn du zurückgehst? Hast du Angst davor in die Realität zurückversetzt zu werden?

A.R.: Ja, sehr. Es ist in Israel sehr einfach, den Konflikt nicht zu sehen. Mein Leben ist normal und gut, und ich muss nach der Besatzung suchen, um sie zu sehen. Wir spüren sie nicht. Obwohl ich in Jerusalem lebe und es überall spürbar sein sollte, ist es sehr einfach, es nicht zu sehen.

Touristen kommen nach Israel und sagen „Oh, hier gibt so viele Waffen“ und mir fällt gar nicht mehr auf, dass die Soldaten mit Gewehren herumlaufen, es ist einfach normales Leben. Und du hast keine Angst davor, weil es die eigenen Soldaten sind, also ist es nur eine Waffe. Sie verkörpern Sicherheit. Wenn du in einen Bus einsteigst und Soldaten darin sind, dann bist du besonders in angespannten Zeiten erleichtert nach dem Motto „Gut, falls etwas passieren sollte, sind Soldaten da“.

Ich möchte mich jetzt engagieren. Einmal in der Woche, aber ich weiß nicht genau wie. Ich habe Angst davor zurückzugehen und von meinem Alltag vereinnahmt zu werden. (…)

Und dann ist da noch diese Geschichte mit meiner Mutter, die mich heute anrief. Vor dem Seminar hatte ich große Angst, ihr zu sagen, dass ich hierherkomme. Ich wollte nicht wieder die Enttäuschung der Familie und eine Verräterin sein.  Aber als ich ihr am Telefon sagte, dass ich nach Deutschland fahre (ausgerechnet nach Deutschland, das ist schon eine Sache für sich in unserer Familie) und dann auch noch zu diesem Seminar, war das erste, was sie sagte: „Oh, das klingt fantastisch“. Das war eine Überraschung für mich. Und dann hat sie mich gestern angerufen und sagte, sie wollte, dass ich vor einer Gruppe ihrer Freundinnen einen Vortrag halte. Sie sind alle religiös, leben zwar nicht selbst in Siedlungen, unterstützen aber die Siedlerbewegung sehr. Sie gehören zum extrem rechten Flügel, alle ihre Söhne und Töchter leben in Siedlungen, und sie sind sehr politische Frauen. Und sie sagte: „Ich möchte, dass Du kommst und mit ihnen über das Seminar sprichst.“ Ich war schockiert. Ich habe zugesagt und es aber sehr schnell wieder bereut, weil es beängstigend ist. (…)

Aber die Tatsache, dass sie zuhören und davon erfahren wollen, gibt mir eine Menge Hoffnung. Denn vielleicht sind gerade diese Leute diejenigen, die Palästinenser treffen sollten. Ich wünschte, die Palästinenser aus unserer Gruppe könnten kommen. Ich weiß nicht, ob ich die palästinensische Sache selbst vertreten kann. Ich weiß nicht genug darüber und ich spreche nicht gern im Namen anderer. Aber es ist sehr schön, dass sie zuhören wollen. (…)