Achlam* (Name geändert) ist 20 Jahre alt und studiert Kommunikationswissenschaften an der An-Najah Universität in Nablus. Derzeit lebt sie bei ihrer Großmutter in einem Dorf nahe Nablus. Sie würde lieber bei ihrer Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Qualqilia wohnen, aber die Fahrt zur Universität wäre auch wegen der vielen mobilen israelischen Checkpoints zu anstrengend. Während der Dialogeinheiten sprach sie viel über Verwandte und Freunde, die durch die israelische Armee getötet wurden, und sagte, die schwierigen Auswirkungen der Besatzung würden zur alltäglichen Routine und getötet zu werden, zur Normalität.
Das Interview führte Felix Litschauer.
Felix Litschauer: Was hat Dich motiviert, am Seminar teilzunehmen?
Achlam D.: Ich wusste, dass es in diesem Programm darum geht, mit den Israelis über unser jeweiliges Narrativ zu sprechen. Ich wollte reden. Ich hatte das Gefühl, es ist gut, darüber zu reden, was passiert. In Palästina sprechen wir nicht über die Situation, sie ist einfach normal für uns alle.
F.L.: Was meinst Du mit „darüber zu reden, was passiert“?
A.D.: Über die Auswirkungen der Besatzung, den Konflikt und unser tägliches Leben. Es ist so normal für Palästinenser, dass sie nicht einmal darüber reden. Und ich wollte auch die Sicht der anderen Seite hören, weil ich glaube, dass jede Geschichte zwei Seiten hat. Ich stehe für meine Sache ein und lasse mich nicht davon abhalten, weil ich weiß, dass ich Rechte habe. Das muss für beide Seiten gelten.
F.L.: Kannst Du uns noch etwas mehr über deine alltäglichen Erlebnisse mit der Besatzung und Dein Leben erzählen?
A.D.: Als ich ein Kind war, waren in meinem Dorf keine Kindergärten erlaubt – wir leben in Zone B. Nablus hingegen ist Zone A und durfte damals, während der zweiten Intifada, Bildungseinrichtungen haben. (…) Es gab Ausgangssperren, niemand durfte das Haus verlassen. Vor dem Jahr 2000, da war ich drei Jahre alt, haben mich meine Eltern in einen Kindergarten in Nablus geschickt. Einmal saß ich im Bus, und die israelische Armee blockierte die Straße. Da habe ich das erste Mal in meinem Leben Soldaten gesehen. Solche Sachen sind seither Alltag: Ausgangssperren, Hausdurchsuchungen, bei denen Sachen zerstört wurden, einer meiner Onkel wurde 2007 getötet, letztes Jahr wurde ein anderer Onkel verhaftet. Sie sind in sein Haus eingebrochen und haben Dinge gestohlen.
F.L.: War es jetzt während des Seminars das erste Mal, dass Du Israelis nicht als Soldaten getroffen hast?
A.D.: Das erste Mal habe ich Israelis getroffen, die keine Soldaten waren, als ich in der 10. Klasse war. Sie kamen als Teil der Organisation Peace Now und haben uns Kinder in Englisch unterrichtet. Ich war etwas weiter als die anderen und habe übersetzt, weil die Israelis kein Arabisch konnten. (…) Zuerst haben mich Leute gewarnt: „Sie sind Israelis, sei vorsichtig!“ Aber ich habe nichts Schlechtes mit ihnen erlebt. Und das war auch gar nicht so lange, nur ein oder zwei Monate. Es gibt eine Siedlung auf dem Hügel neben unserem Dorf. Ich habe sie an Orte gebracht, an denen die Siedler Olivenbäume verbrannt haben. Während dieser Zeit habe ich verstanden, dass die Israelis keine Monster sind. Und das war auch eine Motivation, hierher zu kommen. Mehr Menschen wie sie zu treffen. (…)
F.L.: Die zwei Wochen sind jetzt fast rum. Waren die Workshops so, wie Du sie Dir vorgestellt hast? Und gab es etwas, was völlig neu für Dich war?
A.D.: Ich habe nicht erwartet, dass es mich so verletzt, die persönlichen Geschichten der anderen Seite zu hören, besonders an den ersten beiden Tagen. Ich bin wirklich stolz, dass wir zusammen durch diesen Prozess gegangen sind.
F.L.: Was war so schmerzvoll an ihren Geschichten?
A.D.: Als ich ihnen zugehört habe, hatte ich das Gefühl, ihre Geschichten sind nicht einmal ansatzweise vergleichbar mit denen der Palästinenser. Das war anfangs hart. Ich habe mich gefragt: „Was mache ich hier eigentlich?“ „Ich sollte das nicht tun“. Aber es gab einige wirklich tolle Leute, und wir haben auch die schwierigen Momente zusammen durchgestanden.
F.L.: Gab es eine bestimmte Situation, die das geändert hat und dich dazu gebracht hat, zu denken „Vielleicht ist es wirklich gut hier zu sein, ich wünsche mich gerade nicht weg?“
A.D.: Ja, eigentlich als ich angefangen habe, mit den israelischen Frauen zu sprechen und wir alle erstmal gesagt haben: „Ich dachte ihr seid soundso” Einfach die Tatsache, dass ich etwas bei ihnen verändern kann. Eine Israelin hat mir zum Beispiel gesagt, dass sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr wie bisher einfach zuhören kann, wenn Freunde von ihr die Besatzung, die Armee oder etwas ähnliches erwähnen. Ich war sehr stolz, dass ich diesen kleinen Schritt erreicht habe, auch wenn es nur eine Person betrifft. Ich glaube wirklich, dass wir dann viel verändern könnten. Wenn – mal angenommen – die Hälfte der Gruppe hier an Frieden glaubt und dies an nur eine weitere Person in ihrem Umfeld weitergibt. Oder wenn sie den Glauben an Frieden vielleicht an die eigenen Kinder weitergeben und sie entsprechend erziehen, dann könnten wir viel verändern.
F.L.: Du hast in einer der Dialogeinheiten erzählt, dass dich einige der palästinensischen Gruppe als Normalisiererin bezeichnet haben, wegen deines Verhaltens gegenüber einigen Israelis.
A.D.: In den Dialogeinheiten haben wir darüber gesprochen, wie unsere Familien darauf reagiert haben, dass wir hierherkommen. Für meine enge Familie war es OK. Sie vertrauen mir und finden es richtig, sich den Standpunkt der Anderen anzuhören. Aber meinen Verwandten habe ich nicht wirklich davon erzählt, weil ich wusste, was dann passiert. Zum Beispiel: einige Tage, bevor ich hergekommen bin, hat mein Onkel im Internet ein Foto gepostet, auf dem eine palästinensische Frau war, die neben einer Israelin stand. Und da war eine Karte von Palästina und Israel und den beiden Fahnen zusammen. Er hat das Foto als Normalisierung verflucht. Gott sei Dank habe ich ihm nichts von meiner Teilnahme am Seminar erzählt.
An dem Tag, als wir nach Maastricht gefahren sind, habe ich mich verlaufen und zufällig eine Israelin getroffen. Während wir zurück zur Haltestelle gegangen sind, hat mich eine palästinensische Freundin gesehen. Sie kam zu uns und sagte etwas nach dem Motto: „Du Normalisiererin!“ Und ich habe gedacht: „Geht´s noch?“. Beim palästinensischen Kulturabend haben wir Dabke getanzt, und die Israelis haben mitgetanzt. Ich habe meine palästinensischen Freunde an der Seite sitzen sehen und gefragt: “Wollt ihr tanzen?“ Und sie haben geantwortet: „Ernsthaft? Du Normalisiererin!“ Ich habe gedacht: „Gibt es hier etwas, das ich nicht sehe?“ Ich war schockiert. Als die Israelis mich auf das Thema angesprochen haben, habe ich mich wirklich geschämt. Weil sie nett zu uns waren und wir sie nicht so behandeln sollten. Wir haben uns regelrecht zurückgezogen an dem Abend. Ich wehre mich gegen das Wort Normalisierung. Wenn wir Frieden schaffen sollen, wie können wir dann Gespräche und Treffen außen vor lassen? Es wird keinen Frieden geben, wenn wir nur über den Konflikt sprechen. Also habe ich mich am nächsten Morgen beim Frühstück zu den Israelis an den Tisch gesetzt.
F.L.: Es war also eine bewusste Entscheidung?
A.D.: Ja, ich habe entschieden, dass es mir egal sein wird, wie die anderen in meiner Gruppe reagieren.
F.L.: Was glaubst du also wird passieren, wenn Du zurück in die Realität kommst und wieder mit der Realität konfrontiert wirst?
A.D.: Ich werde die Besatzung definitiv nicht als weniger furchtbar wahrnehmen. Aber das erste, was ich tun werde ist, mit den Jugendlichen, die Steine und andere Dinge werfen – was die Israelis hier Terrorismus nennen – zu reden. Bevor ich hierher gekommen bin habe ich das als etwas gesehen, was nur Helden tun. Aber nachdem ich ihre Sichtweise gehört habe, bin ich der Meinung, dass wir das beenden sollten. Und ich werde diese Überzeugung, dass das enden muss, teilen. Ich sehe das nicht mehr als großartig an. Es gibt viele andere Möglichkeiten, gegen die Besatzung aufzustehen, zum Beispiel als Aktivist. Es gibt viel effektivere Dinge als Steine zu werfen oder Selbstmordattentäter zu glorifizieren.
F.L.: Kennst Du Organisationen in Palästina, die gewaltfreien Widerstand leisten?
A.D.: Nein, ich habe noch von keiner gehört. Aber ich habe Interesse daran, nach solchen Organisationen zu suchen, wenn ich zurückkomme. Ich würde wirklich gerne mit ihnen arbeiten.