(Text: Tessa Pariyar) Im Sommer 2019 entstand gemeinsam mit den Koordinator*innen des palästinensisch-israelischen Frauen*seminars die Idee einer Vortragsreise durch Deutschland, bei der Mitarbeiter*innen des Projekts aus Israel und Palästina ihre Arbeit vorstellen und über ihre Erfahrungen und Herausforderungen sprechen. Ursprünglich hatten wir die sechstägige Veranstaltungsreihe in der letzten Novemberwoche 2020 in verschieden Städten Deutschlands geplant, doch angesichts der Pandemiesituation waren wir gezwungen, die Veranstaltungen in den digitalen Raum zu verlegen. Die drei gut besuchten Online-Webinare mit dem Titel „Feministische Perspektiven des grenzüberschreitenden Dialogs auf Graswurzelebene – Frauen* aus Israel und Palästina berichten von ihren Erfahrungen“ widmeten sich unter anderem folgenden Fragen: Wie ändert sich durch das Kennenlernen der Perspektive der „Anderen“ die eigene Sichtweise auf den Konflikt, auf die politische Situation vor Ort oder sogar die Sicht auf persönliche und kollektive Narrative? Warum bieten wir ein Seminar nur für Frauen* an und warum finden wir es wichtig, grenzüberschreitende Dialoge und Konflikttransformation auch aus einer feministischen Perspektive zu betrachten?
Alle drei Sprecher*innen erzählten zunächst, wie sie selbst zum Projekt kamen, welchen Prozess das Seminar bei ihnen auslöste und welche Veränderung es schließlich herbeiführte. Hierbei ist besonders, dass die beiden Israel*innen Shir B. und Alex G.*, bevor sie Teil des Teams wurden, selbst Teilnehmer*innen waren. Rana K.*, die das Seminar auf palästinensischer Seite koordiniert, arbeitete zunächst als Übersetzerin mit, bevor sie die Koordination übernahm.
Alex erzählte, dass der Dialogprozess ihre Sichtweise auf den Konflikt und die Besatzung auf mehreren Ebenen nachhaltig veränderte. Im Seminar wurde ihr klar, wie viel Wissen über die reale politische Situation ihr fehlte: sowohl in ihrem unpolitischen Elternhaus als auch in der Schule wurde ihr der Zugang zu diesem Wissen – und damit die Möglichkeit, die Realität zu analysieren, verweigert. Diese Erkenntnis führte bei ihr zu dem Verlangen, selbst mehr zu lernen und schließlich auch anderen diese Erfahrung zu ermöglichen: „Ich erkannte, dass dieses Wissen über die Perspektiven der anderen Seite ohne den Dialog einfach nicht zugänglich ist und dass, wenn mehr Frauen* mit diesem Wissen konfrontiert sind, sie und möglicherweise auch ihr Umfeld ähnliche Schlüsse ziehen, so wie ich sie selbst gezogen habe. Nur durch persönliche Begegnung entsteht eine echte Verbindung mit einer persönlichen Erfahrung – eine, die nicht durch das Lesen eines Artikels hergestellt werden kann.“
Auch bei Shir hat das Seminar ihre Perspektive auf die politische Situation komplett verändert: Anstatt wie ursprünglich geplant zur Armee zu gehen, entschloss sie sich zu einem Ersatzdienst in der jüdisch-arabischen Stadt Jaffa. Sie berichtete, dass sie auch als Moderatorin erstaunt sei, wie sehr sie jedes Mal wieder auch Teilnehmer*in ist, die selbst den Prozess mit der Gruppe durchläuft. Die Arbeit mit dem Team sei nicht nur herausfordernd, sondern auch bereichernd. Inspirierend und eine Motivation für sie, das Projekt weiterzuführen, ist, dass die Teilnehmenden, die in ganz unterschiedlichen Bereichen arbeiten, weiterhin in Kontakt bleiben und gemeinsam aktiv werden. Während der gesamten Corona-Zeit blieben die Teilnehmer*innen in Kontakt und unterstützten sich gegenseitig, trafen sich zu Demonstrationen und organisierten gemeinsame Online-Treffen.
Rana ist als palästinensische Aktivist*in des grenzüberschreitenden Dialogs noch mehr als ihre israelischen Kolleg*innen Anfeindungen und Diffamierungen von der Regierung, aber auch seitens der palästinensischen Gesellschaft ausgesetzt. Aus Sicherheitsgründen entschloss sie sich, während der Onlineveranstaltungen nicht nur ihren Namen zu ändern, sondern auch ohne Kamera teilzunehmen. Sie wuchs im heutigen Staatsgebiet Israels auf, lebt aber mittlerweile im Westjordanland, wo sie als Sozialarbeiterin, Übersetzerin und Moderatorin in verschiedenen Dialogkontexten tätig ist.
Die Frage, warum es Sinn ergibt, ein Frauen*seminar anzubieten, beantwortet Rana folgendermaßen: „Gewöhnlich beanspruchen palästinensische Frauen in solchen Seminaren, wenn sie mit Männern zusammen sind, nicht ihr Recht zu sprechen, und es gibt auch keinen Raum und keine Zeit für sie, zu sprechen. Meiner Erfahrung nach, und hier möchte ich nicht verallgemeinern, schweigen sie in der Regel, als sei ihre Stimme nicht wichtig und ihr Ton nicht patriotisch und militant genug. Meistens entscheiden die Männer, welcher Tonfall und welche Grundhaltung bei diesen Seminaren ‚angemessen‘ ist. (…) Viele der Frauen in geschlechtergemischten Seminaren kommen mit ihrem Bruder, Ehemann, Neffen. Oft ist diese Begleitung wie eine „Genehmigung“ der Familie, die es ihnen erlaubt, teilzunehmen und weit weg von zu Hause zu sein und die sicher stellt, dass niemand ihrem Ruf schaden kann. Die Tatsache, dass sich Familienmitglieder im Seminarraum aufhalten, erschwert es den Frauen, voll präsent zu sein. (…)
Auch Alex bestätigt die von männlichen Teilnehmenden dominierte Diskussion über den Konflikt im Seminarkontext mit Frauen* und Männern*: „Im politischen Diskurs sind es in der Regel israelische Männer und palästinensische Männer, die die Grenzen des Diskurses über die Besatzung und über die politische Realität bestimmen. Es wird über die Besatzung gesprochen, aber es gibt keinen Ort, um über Gender zu sprechen. (…) Im Seminar werden wir als Frauen zum ersten Mal gefragt, was wir über die politische Realität zu sagen haben. Wir fragen uns SELBST, denn normalerweise erlauben wir uns nicht einmal, über Politik im Allgemeinen etwas zu sagen, weil wir immer hören, dass wir nicht ausreichend informiert sind, dass wir nicht diejenigen an der Front sind. Und dann gibt es diese Stimmen in unserem Kopf, die uns zum Schweigen bringen, die ständig sagen: Du weißt nicht genug, sag deshalb besser nicht, was dir durch den Kopf geht.“
Das Frauen*seminar ermöglicht nicht nur, sich in intensiven Diskussionen über den Konflikt und die Besatzung auseinanderzusetzen, sondern bietet ebenso Raum für Auseinandersetzungen über andere Aspekte des politischen Diskurses, wie zum Beispiel Gender. Aspekte, welche Teil des Problems sind und so auch Teil der Lösung sein müssen. „Für mich ist das Frauen*seminar ein sicherer Ort, an dem ich weiß, dass keine dieser Fragen und Komplexitäten uns in unseren politischen Diskussionen unterbrechen, sondern im Gegenteil: Sie bereichern und erlauben uns, aus diversen Blickwinkeln über die Situation nachzudenken“, stellt Alex klar. Als Frauen* mit verschiedenen Hintergründen seien wir verpflichtet, so Alex, die Realität in ihrer ganzen Komplexität zu betrachten, um eine gerechte Lösung zu finden. Aus diesem Grund sind feministische Perspektiven für die Konflikttransformation unerlässlich.
Gleichzeitig ist es wichtig, Frauen* zu bestärken und ihnen zu ermöglichen, Teil dieser Suche zu sein. Hierzu leistet das Seminar einen wichtigen Beitrag. „Ich glaube, dass Frauen sehr konfliktträchtige Themen aufrichtig ansprechen und ausdrücken können. Gemeinsam versuchen sie die jeweils andere Seite einzubinden. Wenn Frauen* die Chance hätten, sich an der Suche nach Lösungen für den Konflikt zu beteiligen, gäbe es gerechte und nachhaltige Lösungen. Das habe ich im Seminar vor allem bei der Diskussion über das Thema Transitional Justice1 erlebt“, bekräftigt Rana die Notwenigkeit, Stimmen von Frauen* gerade in Bezug auf das Thema Konfliktlösung zu hören und hörbar zu machen.
Die drei Mitarbeiter*innen sind sich einig, dass das Dialogseminar unmittelbare Wirkung zeigt: „Das Feedback, das ich nach dem Seminar von den Teilnehmerinnen bekomme, ist überwältigend. Ich sehe ganz andere Frauen*: Frauen*, die sich nicht scheuen zu sprechen, die ihren Raum und ihre Rechte einfordern. Und einige entscheiden sich als Aktivistinnen gegen die Besatzung oder für Frauenrechte zu kämpfen“, berichtet Rana. Alex bestätigt: „Was mich motiviert weiter zu machen, ist die Tatsache, dass junge Frauen* gerade nach diesen zwei kurzen Wochen der Begegnung ihre Meinung über den Konflikt ändern.“
(Text: Tessa Pariyar) In the summer of 2019, together with the coordinators of the Palestinian-Israeli Women’s Seminar, we came up with the idea of a lecture tour through Germany, where project staff from Israel and Palestine would present their work and talk about their experiences and challenges. Originally, we had planned the six-day series of events in various cities in Germany during the last week of November 2020, but in light of the pandemic situation, we were forced to move the events to the digital space. The three well-attended online webinars entitled „Feminist Perspectives on Cross-Border Dialogue at the Grassroots Level – Women* from Israel and Palestine Share Their Experiences“ were dedicated to the following questions, among others: How does getting to know the perspective of the „others“ change one’s own view of the conflict, of the political situation on the ground, or even of personal and collective narratives? Why do we offer a seminar only for women* and why do we find it important to look at cross-border dialogues and conflict transformation also from a feminist perspective?
All three speakers began by telling how they themselves came to the project, what process the seminar triggered in them, and what changes it ultimately brought about. It is especially important to note that the two Israelis Shir B. and Alex G.* were participants themselves before they became part of the team. Rana K.*, who coordinated the seminar on the Palestinian side, initially worked as a translator before taking over the coordination.
Alex said that the dialogue process changed her perspective on the conflict and the occupation on several levels. In the seminar, she realized how much knowledge about the real political situation she lacked: both in her apolitical home and in school, she was denied access to this knowledge – and thus the possibility to analyze reality. This realization led her to a desire to learn more herself and ultimately to enable others to have this experience: „I realized that this knowledge about the perspectives of the other side is simply not accessible without dialogue, and that when more women* are confronted with this knowledge, they and possibly those around them will draw similar conclusions to the ones I drew myself. It’s only through personal encounter that a real connection with a personal experience is made – one that can’t be made by reading an article.“
For Shir, too, the seminar completely changed her perspective on the political situation: Instead of joining the army as originally planned, she decided to do alternative service in the Jewish Arab city of Jaffa. She reported that, even as a facilitator, she was amazed at how much she was also a participant every time, going through the process with the group herself. Working with the team is not only challenging but also enriching, she said. Inspiring and a motivation for her to continue the project is that the participants, who work in very different fields, continue to stay in contact and become active together. Throughout Corona, participants* stayed in touch and supported each other, meeting for demonstrations and organizing joint online meetings.
Rana, as a Palestinian cross-border dialogue activist, is even more exposed to hostility and defamation from the government than her Israeli colleagues, but also from Palestinian society. For security reasons, she decided not only to change her name during the online events, but also to participate without a camera. She grew up in what is now the territory of Israel, but now lives in the West Bank, where she works as a social worker, translator and facilitator in various dialogue contexts.
When asked why it makes sense to offer a women*s seminar, Rana responds as follows: „Usually in such seminars, when Palestinian women are with men, they don’t claim their right to speak, and there is no space or time for them to speak. In my experience, and here I do not want to generalize, they are usually silent, as if their voice is not important and their tone is not patriotic and militant enough. Most of the time it is the men who decide what tone and basic attitude is ‚appropriate‘ at these seminars. (…) Many of the women in mixed-gender seminars come with their brother, husband, nephew. Often this accompaniment is like a ‚permission‘ from the family, allowing them to participate and be far from home, making sure that no one can harm their reputation. The fact that family members are in the seminar room makes it difficult for the women to be fully present. (…)
Alex also confirms the male-dominated discussion of conflict in the seminar context with women* and men*: „In the political discourse, it is usually Israeli men and Palestinian men who determine the boundaries of the discourse about the occupation and about the political reality. There is talk about the occupation, but there is no place to talk about gender. (…) In the seminar, for the first time, we as women are asked what we have to say about political reality. We ask ourselves SELF, because usually we don’t even allow ourselves to say anything about politics in general, because we always hear that we are not informed enough, that we are not the ones on the front lines. And then there are these voices in our head that silence us, that keep saying, you don’t know enough, so you better not say what’s on your mind.“
The women’s* seminar not only allows to engage in intense discussions about the conflict and the occupation, but also provides space for debates about other aspects of the political discourse, such as gender. Aspects which are part of the problem and thus must also be part of the solution. „For me, the Women* Seminar is a safe place where I know that none of these questions and complexities interrupt us in our political discussions, but on the contrary: they enrich and allow us to think about the situation from diverse angles,“ Alex clarifies. As women* from diverse backgrounds, Alex says, we have an obligation to look at reality in all its complexity in order to find a just solution. For this reason, feminist perspectives are essential for conflict transformation.
At the same time, it is important to empower women* and enable them to be part of this search. To this end, the seminar makes an important contribution. „I believe that women can address and express very conflictual issues in a sincere way. Together they try to engage the other side. If women* had the chance to participate in finding solutions to the conflict, there would be just and sustainable solutions. That’s what I experienced in the seminar, especially during the discussion on the topic of transitional justice1 ,“ Rana affirms the need to hear women’s voices and make them audible, especially in relation to the topic of conflict resolution.
The three staff members agree that the dialogue seminar has had an immediate impact: „The feedback I get from the participants after the seminar is overwhelming. I see completely different women*: Women* who are not afraid to speak, who demand their space and their rights. And some choose to fight as activists against the occupation or for women’s rights,“ Rana reports. Alex confirms, „What motivates me to keep going is the fact that young women* change their minds about the conflict just after these two short weeks of meeting.“