Yitzchak M. schrieb zwei Wochen nach dem Allgenders-Seminar diesen Erfahrungsbericht und veröffentlichte ihn auf Facebook. Er bat uns explizit, den Bericht unter seinem echten Namen zu veröffentlichen.
Heute, vor einem Monat genau, bin ich losgeflogen – nach Köln in Deutschland, um an einem israelisch-palästinensischen Seminar teilzunehmen, in dem mit der Methode der Gewaltfreien Kommunikation gearbeitet wird. Wie es meine Gewohnheit ist, habe ich meine beste Kleidung eingepackt, um ein modischer Hingucker für die Nichtjuden zu sein. Doch nur Sekunden nach dem Einsteigen ins Flugzeug lenkte einer der Passagiere meine Aufmerksamkeit auf einen schwerwiegenden ästhetischen Mangel, den ich irgendwie übersehen hatte. Meine eleganten Schuhe waren in einem beängstigenden Maß staubig und schmutzig. Er fragte mich, wie es passiert sei und sofort erinnerte ich mich: Nur ein paar Tage zuvor ging ich auf einem Feldweg zum Friedhof in der Ortschaft Ofra (Anm.: eine jüdische Siedlung in der Westbank), wo ich an der Beerdigung von Dvir Shorek teilnahm, einem Neunzehnjährigen, der von Terroristen in den Nachtstunden außerhalb seiner Jeschiwa (Talmud-Schule) ermordet wurde.
Und so flog ich zum Seminar mit einer Überfülle von Schmerz im Herzen und in den Schuhen, die mich daran erinnerten, wie verstrickt und bedrohlich die Situation hier im Land ist.
In den ersten Tagen haben wir wenig, wenn überhaupt, über den Konflikt gesprochen. Es waren gleichermaßen seltsame und wunderbare Tage. Aufgrund von Sprachbarrieren musste ich mit den meisten Mitgliedern der palästinensischen Gruppe alternative Kommunikationswege finden. (…) Dennoch lernten wir, Zeit miteinander zu verbringen, auch ohne Worte. Beginnend mit einem stillen Blick in die Augen und mit einem leichten Nicken mit dem Kopf in der Schlange zum Mittagessen, bis zu einem gemeinsamen Lauf im Wald, der das Gästehaus umgibt, gemeinsamem Schwimmen im nahe gelegenen See, einer Sitzung mit der Shisha und einer sehr verrückten, aufregenden und unglaublich besonderen Tanzparty mit DJ Soulcat, der ebenfalls am Seminar teilnahm.(…)
Am nächsten Morgen ging ich wie gewohnt zum Frühstück. Der Kater, der mit dem Alter ohne jeden Zweifel schlimmer wird, hatte gerade begonnen, als eine der Moderatorinnen sich neben mich setzte mit einer sanften Warnung: „Yitzchak, heute wird ein harter Tag im Seminar sein.“ Für einen Moment dachte ich, sie meinte meinen Kater und dass in ihren Worten eine Art Zurechtweisung darüber liegt, dass ich mich wie ein sechzehnjähriger Junge auf einem jährlichen Ausflug benahm, aber ich warf einen Blick auf den Zeitplan und dort stand geschrieben „persönliche Geschichten / Familienerzählungen“… sowas in der Art. Ich bereitete mir einen schwarzen Kaffee und dachte mir, dass diese Moderatorin süß ist, aber dass sie mich auch nicht wirklich kennt. Und ich habe schon sehr harte Geschichten in meinem Leben gehört, also, alles in Ordnung.
Ich habe mir nicht vorgestellt, dass der Schlag so mächtig sein würde. Er erschütterte mich jenseits jeder Vorstellung. In dem Moment, als die palästinensischen Freunde vor uns ihr Herz öffneten, in den kleinen Gruppen, stieg der Schmerz auf, floss heraus und überflutete den Raum. Wegen der Sorge um ihre Sicherheit kann ich keine vollständigen Namen nennen oder Geschichten erzählen, nur sagen, dass mein Herz vor lauter Schmerz zersprang. Obwohl ich schon wusste, dass das Leben im Westjordanland kein Picknick ist, hatte ich mir nicht vorstellen können, so harte Geschichten zu hören: Wie ein Junge, der mitten in der Nacht vom Schlag einer M16 ins Gesicht aufwachte, bei der Suche nach Waffen in seinem Haus (die es in seinem Fall nicht gab) oder ein palästinensischer Jugendlicher, von dem verlangt wurde, sich komplett auszuziehen an einem der Checkpoints in Samaria, in einer kalten Winternacht.
Viele Palästinenser erzählten, seit der Operation Schutzschild im Jahr 2002 seien ihre Familien zerstört und ihr Leben zur Hölle geworden. Einige sprachen von der Schwierigkeit, Arbeit zu finden und darüber, dass sie gezwungen sind, von Israel eine Erlaubnis zu erhalten, um jeden Tag die Grenze zu überqueren und hier alle möglichen schweren Arbeiten zu leisten. Andere entschieden sich, persönliche Traumata mitzuteilen, die sie von Kindesbeinen an mit sich herumtragen, wie der Überfall von Soldaten in ihren Häusern mitten in der Nacht, begleitet von Hunden, um nach Waffen zu suchen. (Mir ist bewusst, dass für die IDF (Anm.: Israeli Defense Force) solches Vorgehen nötig ist, aber erklärt mal einem siebenjährigen Kind, dass es irgendeine Rechtfertigung für so einen Überfall auf sein Zuhause gibt. Für ihn ist das die reine Bosheit). Ich hörte völlige Hilflosigkeit. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit wurde schwer verletzt und sie entwickelten über Jahre hinweg sehr harte Gefühle gegenüber dem Staat Israel und allen, die ihn in ihren Augen vertreten.
Auch die israelischen Freunde teilten ihre persönlichen Geschichten mit der Gruppe, aber meistens berührten sie nicht direkt den Terror der Zeit der Zweiten Intifada. Am Ende jeder Geschichte holten wir tief Luft und versuchten, volle Empathie zu zeigen, durch einen Blick oder durch ein Wort. Das Ziel war nicht, über Fakten zu streiten oder uns daran festzuhalten, sondern einfach den Anderen zu hören und das Herz zu öffnen.
Und dann kam ich an die Reihe.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und entschied mich in einem kühnen Moment, etwas zu öffnen, das seit Jahren tief, tief in mir vergraben war. Ich fragte mich, mit welchem Punkt ich beginnen sollte. Der Herbst des Jahres 2000 fühlte sich für mich richtig an. Als ich begann, von den ersten Anschlägen in Jerusalem zu erzählen, wurden alle möglichen Erinnerungen hochgeschwemmt und stiegen in mir auf, die ich in den vergangenen Jahren verdrängt hatte – wie die riesige Angst, die ich um meine Mutter hatte, dass ihr etwas Schlimmes geschehen würde, weil sie einmal in der Woche in der Innenstadt arbeitete. Und die Passfotos, die ich in meinem Zimmer aufbewahrt habe, für den Fall, dass ich bei einem Anschlag sterben sollte und die Presse von meiner Familie ein Bild erbitten würde, um es am nächsten Morgen in die Zeitung zu tun. (Ich vertraute meinen Eltern nicht, dass sie ein schönes Bild nach meinem Geschmack auswählen würden und als Kind mit ausgeprägtem Sinn für Ästhetik war ich schockiert über die sehr wenig schmeichelhaften Bilder der Ermordeten, die üblicherweise auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Nachrichtensendern gezeigt wurden). Ich sprach über Malki Roth und Michal Raziel aus der Nachbarschaft meiner Kindheit, die bei einem Anschlag im Restaurant Sbarro ermordet wurden. Ich erzählte von dem Anschlag in der Jeschiwah Merkas HaRaw (Anm.: Ein Anschlag in einer National-Religiösen Talmud-Schule am 6.3.2008, bei dem acht Schüler zwischen 15 und 26 Jahren, getötet wurden), worüber ich nicht viel spreche, in keinem Forum: Von Yonatan, Segev und Avraham David aus meiner Klassenstufe, die ermordet wurden, während sie gemeinsam eifrig an einer Seite Gemara (Anm.: ein Teil des Talmud) arbeiteten. Ich erinnerte an Dvir Shorek und wenn ich rechtzeitig von Rinah Shnerb (Anm.: Eine 17-Jährige, die am 23.8.2019, während des Seminars, in der Westbank bei einem Anschlag starb) gehört hätte – ich hätte auch sie erwähnt.
Ich schloss mit einer besonderen Bitte an die Mitglieder der palästinensischen Gruppe: Versucht zu verstehen, dass das Bild komplexer ist, als das, was sie euch Jahre lang erzählt haben. Dass es nicht schwarz und weiß ist. Nach einer Minute der Stille öffnete einer von ihnen den Mund und sagte: „Du weißt, dass auch bei uns Gymnasialschüler getötet werden, nicht wahr?“
In diesem Moment verschwand das angenehme Gefühl der Hoffnung, das mich umgab und mit Wärme einhüllte, seit dem Beginn des Seminars. Ich fühlte, dass wir, die Israelis, ihnen zugehört hatten mit voller Empathie, mit Tränen in den Augen, während ein beträchtlicher Teil der Mitglieder der palästinensischen Gruppe ihr Herz für meinen Schmerz nicht öffnete. Ich fühlte mich verletzt, einsam und mutlos. Mein Bedürfnis nach Anerkennung, Mitgefühl und Gegenseitigkeit wurde nicht erfüllt. Mir schien es so, dass da kein Platz für meinen Schmerz war, und dass alles in ihren Augen schrumpft im Gegensatz zur Besatzung.
Ich befand mich in einem ernsthaften Konflikt: Sollte ich weiterhin auf der Anerkennung für den ‚israelischen Schmerz‘ bestehen oder wäre es besser, Engelsflügel wachsen zu lassen und dort zu sein, bei ihrem Schmerz und mit hundert Prozent Empathie?
In diesen Tagen waren wir gegen Ende des Seminars und ich fühlte mich überflutet und aufgewühlt. Ich zog Laufschuhe an und ging raus um im Wald den Kopf frei zu bekommen. Als ich zum See kam, blickte ich in das klare Wasser und plötzlich hallte in meinem Kopf der berühmte Vers aus dem Buch der Sprüche Salomos wider: „Wie das Spiegelbild im Wasser ist gegenüber dem Angesicht, also ist eines Menschen Herz gegenüber dem andern“ (Sprüche 27:19). In diesem Moment verstand ich, dass ich innerlich völlig blockiert war. Selbst wenn ich ein Engel hätte sein wollen, in meinem Herzen wurde eine gut befestigte Mauer gebaut, die es mir nicht ermöglichte, in vollem Mitgefühl mit den Mitgliedern der palästinensischen Gruppe zu sein, solange es keine Anerkennung für meinen Schmerz gibt.
Mir wurde klar, dass ich, wenn ich in dieser Angelegenheit meinen palästinensischen Freunden zuliebe „verzichte“, im Prinzip auch auf mich selbst verzichte und die Integrität des Prozesses verletze. Wenn es zwei braucht, um Tango zu tanzen, braucht es ganz sicher auch zwei, um irgendeine Verbindung und Verständnis zwischen den beiden Parteien in einem so verfluchten und blutigen Konflikt zu erreichen. Mit meiner Forderung an sie nach Anerkennung für meinen Schmerz, bitte ich im Prinzip auch mich selbst, mein Herz für ihren Schmerz zu öffnen und die Wand der Interpretationen und Urteile zu durchbrechen, die zwischen uns steht. Meine Urteile werden doch durch ihre Interpretationen genährt und umgekehrt. Ich verstand, dass der Wunsch nach Gegenseitigkeit im Prozess einem persönlichen Bedürfnis entsprach, aber im Gesamtbild ist es ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer tiefen Verbindung zwischen den beiden Seiten.
Dank der großartigen Moderatorin, die ich hatte, und dank meiner Gruppenkollegen, entschied ich mich, dieses Thema noch einmal im Gruppenforum anzusprechen und um Anerkennung meines Schmerzes zu bitten. (…) Diese Dinge waren eine Quelle stürmischer Debatten innerhalb der Gruppe. Das waren schwere Tage. Einige Palästinenser hatten das Gefühl, dass ich ihnen den Mund verschließe und sie angreife. Einige Israelis waren auf Grund meiner deutlichen Worte frustriert und andere fühlten sich unwohl mit dem „polarisierenden“ Diskurs und mit der Zugehörigkeit zum einen Narrativ oder dem anderen. Und Tacheles, wenn ich offen spreche, auch mir fiel es schwer, diejenigen, die mich konfrontierten, zu ertragen, ob es ein palästinensischer Freund war, der über sein Leiden sprach, oder ob es eine Freundin war, die über das Schuldgefühl sprach, das sie als Israelin hat. Ich kochte innerlich und urteilte nach links und nach rechts. Viele Male schwankte ich zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her.
Und trotzdem ist das Schöne an der Sprache der gewaltfreien Kommunikation, dass man im Laufe der Zeit und nach langem Üben den Anderen durch die Wand unserer Interpretationen und Urteile hindurch sehen kann, nach und nach. Die gewaltfreie Kommunikation lehrt uns, dass hinter jedem Gefühl Bedürfnisse stehen, und auch hinter jeder Strategie gibt es Bedürfnisse und Gefühle. Das Ziel war es, zu versuchen, die Bedürfnisse des Anderen zu sehen, trotz der Schwierigkeit und wegen der Schwierigkeit.
Nicht, dass es dort irgendeine Hollywood-Magie gab, aber es gab einige sehr süße Momente (zumindest für mich), wie zum Beispiel einen Abend am Ende eines harten Tages, an dem wir beschlossen, ein paar israelische Leute, einen Film anzuschauen, und plötzlich kamen einige palästinensische Leute dazu (…) und einen gemeinsamen Kiddusch (Anm.: Schabbatempfang), den wir zusammen gemacht haben und so weiter. Und am vorletzten Tag, am Samstag, sagte eine der palästinensischen Freundinnen, die viel mit mir gestritten hatte, mit anderen Worten, sie erkenne an, dass beide Seiten leiden, Israelis und Palästinenser gleichermaßen. Ihre Worte öffneten eine Tür in meinem Herzen, und in diesem Moment versprach ich mir selbst, dass egal wie sehr mich die Routine im Land waschen würde, wenn ich zurückkomme würde ich mein Bestes tun, um diese Tür offen zu halten, auch wenn bisher von einem winzigen Spalt die Rede ist.
Solange ich zurückdenken kann, sprechen alle in diesem Staat über Frieden: Frieden jetzt, Frieden niemals, Frieden mit Feinden, Friedensabkommen (obwohl in den letzten Jahren immer mehr von ‚Abtrennung‘ und ‚Scheidung‘ die Rede ist). Aber um dorthin zu gelangen, brauchen wir, in meinen Augen, vor allem Empathie und die gegenseitige Anerkennung für das Leid des Anderen. Das ist leicht zu schreiben und schwer umzusetzen, ich weiß, aber meiner Meinung nach ist dies der angemessenste Weg, wenn nicht der einzige, der dazu führen wird, dass die Flammen niedriger schlagen. Ich habe keine Ahnung, was Greenblatt und Kushner für uns ausgekocht haben, aber kein staatliches Abkommen ist ein Ersatz für Empathie, für Anerkennung und für ein tiefes Verständnis dafür, dass beide, Israelis und Palästinenser*innen, hier sind, um zu bleiben. Einfach so. Solange wir das nicht tun, wird die Feindseligkeit unter der Oberfläche weiter brodeln, bis zum nächsten Krieg. …
Ob wir uns über die Strategie einig werden? Unwahrscheinlich. Werden wir den Frieden bringen, hier und jetzt? Auch nicht wahrscheinlich. Aber wir haben es auf jeden Fall geschafft, uns noch ein wenig anzunähern und zu der Erkenntnis zu kommen, dass wir vor allem alle Menschen sind und dass wir den Schmerz des Anderen anerkennen und Platz für Empathie schaffen müssen.
Frieden, das ist schon die nächste Stufe.