Bisher waren Versuche, Teilnehmende aus dem Gazastreifen für die Seminare zu gewinnen, regelmäßig gescheitert: Sie erhielten keine Reiseerlaubnis oder hatten zu große Angst vor Repressionen. 2019 konnte erstmalig in der Geschichte des Projekts jemand aus Gaza am Frauen*seminar teilnehmen.Mit Katharina Ochsendorf spricht Marja Q.* über ihre Motivation, den Seminarprozess und den Alltag im Gazastreifen.
K.O.: Was ist deine Motivation, am Seminar teilzunehmen?
Marja Q.: Anfangs wollte ich vor allem kommen, weil das Seminar mir die Chance bietet, mit Israelinnen zu sprechen. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen wir uns ohne Furcht voreinander begegnen können – ohne Angst vor dem, was uns als Palästinenserinnen und Israelinnen über die jeweils Anderen beigebracht wird. Außerdem habe ich diese Friedensbotschaft: Ich will zeigen, dass nicht alle Bewohner*innen von Gaza Gewalt unterstützen und die meisten ganz normale Leute sind, die einfach ein normales Leben führen wollen, mit garantieren Grundrechten – wie dem Recht auf Bewegungsfreiheit, dem Recht auf Bildung oder Zugang zu medizinischer Versorgung. Alles, was man in den Medien über Gaza hört, ist, dass so Viele durch Kriege getötet werden, durch Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah oder Hamas und Israelis. Und die Leute kennen die Geschichte hinter diesen Menschen nicht. Einige sind nur Unschuldige und werden trotzdem getötet, weil sie angeblich Terrorist*innen sind.
K.O.: Und was waren deine Erwartungen an das Seminar?
M.Q.: Ich habe heute in der bi-nationalen Sitzung gesagt, dass meine Erwartung war, dass die Israelinnen engstirnig wären, dass sie nicht hören wollen würden, was ich über Menschen aus Gaza oder Palästinenser*innen generell zu sagen habe und dass sie die „Hamas-Karte“ zücken würden, darauf bestehen würden, dass sie sich gegen uns absichern müssen, weil wir sie töten wollen. Aber ich habe sie als großartige Frauen* kennengelernt, sie waren neugierig, mehr über die Situation zu erfahren. Sie zeigten viel Mitgefühl dafür, dass wir keine Schutzräume haben, wenn Raketen über unseren Köpfen einschlagen. Sie waren solidarisch mit unserer Situation. Ich war erleichtert, dass ich meine Botschaft rüberbringen konnte – und sie haben sie akzeptiert. Sie haben meine Erwartungen also glücklicherweise nicht erfüllt. Und sie werden das, was ich ihnen erzählt habe, hoffentlich weitertragen.
K.O.: Bei der Ausstellung zum palästinensischen historischen Narrativ beim Seminar gab es einen speziellen Bereich für Gaza. Man musste einen Kontrollpunkt passieren, um hineinzugelangen. Was hast du dort gezeigt und warum?
M.Q.: Bei der Ausstellung wurde mir am Anfang gesagt, „das ist dein Bereich, nutze ihn, um deine Botschaft mit möglichst einfachen Mitteln rüberzubringen“. Ich wollte den Kontrollpunkt aufbauen, weil ich drei Genehmigungen einholen muss, wenn ich den Gazastreifen verlassen will. Die erste von der Hamas: Sie lassen mich nicht raus, wenn meine Reise ihnen verdächtig erscheint, wenn sie denken, dass ich nach Israel reise oder Israel*innen treffe und mit ihnen kollaboriere. Die zweite Genehmigung ist von den Israelis, denn sie sind sehr besorgt um ihre Sicherheit, auf eine extreme und schlechte Art und Weise. Sie behandeln mich wie eine Terroristin und verhindern meine Einreise, es sei denn, sie haben mich vorher komplett überprüft, zum Beispiel, dass ich keine Verwandten habe, die mit der Hamas oder mit dem Widerstand zusammenarbeiten, oder dass ich nicht an Aktivitäten beteiligt bin, die den Widerstand unterstützen. Sogar, wenn ich nur einen Verwandten hätte, der im Krieg gestorben ist, egal ob er bei der Hamas ist oder nicht, würde ich keine Erlaubnis bekommen. Weil sie Angst vor uns haben, weil ihre Regierung uns als Monster präsentiert. Die dritte Genehmigung ist von den Jordanier*innen: Wir haben keine Flughäfen oder Häfen, also nutzen wir den Flughafen in Jordanien. Mir als Palästinenserin aus Gaza ist es nämlich nicht gestattet, den Ben-Gurion-Flughafen [in Tel-Aviv] zu nutzen. Es gibt also viele Kontrollpunkte, manchmal halten sie das Auto an, überprüfen unsere Papiere oder lassen uns stundenlang warten. Das hängt von der Laune der Soldat*innen ab, die gerade Dienst haben. Ich hatte Glück, dass ich auf dem Weg hierher keine Probleme hatte.
K.O.: Im Ausstellungsraum habe ich diese Tonbandaufnahme gehört, ein surrendes Geräusch, was war das?
M.Q.: Drohnen. Israelis nutzen sie, um Informationen über die Bewegungen der Bewohner*innen von Gaza zu sammeln und uns zu kontrollieren. Jeden Tag, 24 Stunden. Keine bestimmten Anlässe, keine Gnade: Sogar während unserer Feste und an Feiertagen. Sie behaupten, es ist zu ihrer Sicherheit. Das Geräusch ist immer da. Tagsüber ist es kaum hörbar, aber nachts ist es sehr laut, und es ist nervtötend. Und dann die Sirenen von Krankenwagen ständig im Hintergrund. Wir leiden unter der mangelnden medizinischen Versorgung; manchmal sterben Menschen, weil sie nicht die nötige Behandlung bekommen.
Auf der anderen Seite des Ausstellungsraums gab es ein Video mit Ton. Es war ein israelischer Soldat während des Krieges 2014. Er ruft in einem Haus an und fordert die Bewohner*innen auf, das Gebäude binnen zehn Minuten zu räumen, weil sie es angreifen werden. Eine Frage: Wie viele wichtige Sachen kannst du in zehn Minuten packen und mitnehmen? Die Wirkung des Videos war sehr berührend: Ich sah einige Israelinnen weinen und sie sagten, wie leid es ihnen tut und dass sie ihr Bestes tun werden, damit das nie wieder geschieht.
K.O.: Müssen Soldat*innen warnen, bevor sie ein Gebäude bombardieren?
M.Q.: Ja, nach dem Gesetz müssen sie das. Aber sie sprechen meist Hebräisch. Wenn du Glück hast und Hebräisch sprichst, dann kannst du es verstehen und kommst in zehn Minuten raus. Manchmal sprechen sie Englisch. Aber es ist ein hebräisches Englisch, kaum verständlich; auch deshalb gibt es manchmal zusätzliche Opfer. Ich habe von zwei Beispielen erzählt, in Gaza-Stadt und Khan Younis; die Gebäude wurden zerstört, als die Besitzer*innen noch drin waren.
K.O.: Eine andere Sache, die mir aufgefallen ist, war ein Eimer mit sehr schmutzigem Wasser – was hatte es damit auf sich?
M.Q.: (…) Das Grundwasser [in Gaza wird] abgepumpt (…). Der Grundwasserspiegel ist stark gesunken. Er ist unterhalb des Meeresspiegels und unterhalb des Abwasserspiegels — und alles hat sich vermischt. Das Leitungswasser ist sehr verschmutzt. Es gibt Filter und Chlor, um Infektionen zu vermeiden. Aber wir können es nur zum Wischen oder Wäsche waschen nutzen.
K.O.: Wie waren die Reaktionen auf den Teil der Ausstellung?
M.Q.: Alle waren geschockt, dass das eine reale Situation ist. Sie konnten sich das nicht vorstellen. Sie hören und lesen darüber, aber sie konnten es nicht fühlen und erleben. Die Dunkelheit hatte auch einen besonderen Effekt. Ich habe das Licht manchmal ausgeschaltet. So konnten sie erleben, wie es sich anfühlt, nur drei bis sechs Stunden am Tag Strom zu haben. Ich habe auch Statistiken aufgehängt, über die Einwohner*innenzahlen in Gaza, die Armutsrate, die Arbeitslosigkeit und diese Dinge. Und auf der anderen Seite Zahlen über die Toten in der Gazakriege und einen Vergleich der Raketenbeschüsse von Israel auf Gaza und von der Hamas auf Israel.
K.O.: Wie war es, die einzige Teilnehmerin aus dem Gazastreifen zu sein?
M.Q.: Es war wirklich hart. Besonders, als wir Palästinenserinnen unser historisches Narrativ vorbereitet haben. Alle anderen in der Gruppe wussten über die Situation im Westjordanland Bescheid, aber sie wussten nichts über Gaza. Also wollte erstmal niemand bei mir mitmachen und ich war allein. Das war sehr schwer für mich, ich fühlte diese Einsamkeit – ich war allein, wie immer. Ich bin allein, wenn ich zum Flughafen fahre und wenn ich der schlechten Behandlung durch die Jordanier*innen ausgesetzt bin, ich bin allein, wenn ich den Rafah-Grenzübergang nutze und die Ägypter*innen mich wie Müll behandeln, und jetzt war ich allein unter meinen eigenen Leuten, weil sie die Situation nicht kennen und nicht mitmachen wollen. Dann haben Kira* und Lea* sich gemeldet und ich habe mich sehr unterstützt gefühlt.
K.O.: Also war die Ausstellung nicht nur für die Israel*innen, sondern auch für die anderen Palästinenser*innen gedacht?
M.Q.: Selbstverständlich. Denn sie dürfen nicht nach Gaza und die Bewohner*innen von Gaza dürfen nicht raus. Ich habe Glück, weil ich in einer internationalen Organisation arbeite, aber ich habe drei Jahre gebraucht, um die dauerhafte Reiseerlaubnis zu bekommen. Letztes Jahr haben vielleicht zehn Personen von allen NGOs Erlaubnisse bekommen. Bei den anderen wurden die Anträge aus „Sicherheitsgründen“ abgelehnt.
K.O.: Es ist sehr bewegend, dass du hier bist. Ich bewundere deinen Mut, denn ich weiß, hier teilzunehmen, ist ein großes Risiko für dich.
M.Q.: Nicht bloß für mich. Wenn es nur um mich ginge, wäre das nicht so wichtig. Es ist auch meine Familie. Ihr habt mir die Möglichkeit gegeben, mein Kopf und mein Herz Menschen zu öffnen, vor denen ich Angst hatte. Und jetzt empfinde ich sie nicht nur als Freundinnen, sondern als Familie. (…) Es ist ein Privileg, hier sein zu dürfen.
K.O.: Wie schaffst du es, so offen und positiv zu sein, den Anderen nicht zum Beispiel mit Wut zu begegnen, bei dem, was du tagtäglich erlebst?
M.Q.: Ich habe von klein auf Rassismus und Hass erlebt. Ich wurde in Sau-di-Arabien geboren und in der Schule behandelten sie mich wie eine Sklavin. Sie beschimpften uns als Ausländer*innen. Dann haben sie alle Palästinenser*innen ausgewiesen, weil damals Saddam Hussein Kuweit angriff und Arafat ihm zur Seite stand, weil er wollte, dass Hussein Israel angreift. Wir gingen nach Jordanien, aber, weil wir Gaza-Papiere hatten, durften wir ihre Schulen nicht besuchen.
All das Leid hat mir gezeigt, dass Hass mehr Hass hervorbringt. Rache wird zu mehr Tod und Kummer führen. Und wenn ich in einer guten Umgebung leben möchte, sollte ich nicht gegen den Friedensprozess kämpfen, sondern ich sollte die bekämpfen, die dafür sorgen, dass Menschen leiden. Ich will nicht, dass irgendwer erleben muss, was ich erlebt habe. Wir haben so viel Platz auf der Erde, wir müssen niemanden leiden lassen. Ich habe viel erlebt, die erste Intifada, die Oslo-Verträge, den Friedensprozess, die zweite Intifada und die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen. Und sogar nach drei Gazakriegen wächst tagtäglich mein Glaube daran, Frieden aufzubauen. Töten wird mehr Töten bringen. Aber Liebe und Leidenschaft werden mehr Liebe bringen, mehr Frieden, werden uns einander verstehen lassen und uns erlauben, die Identität des Anderen anzuerkennen (…) Ich wünschte, ich könnte mehr tun.