Zur politischen Situation in Bosnien-Herzegowina und Serbien
(Autorin: Brigitte Klaß) Seit dem letzten Jahr gibt es in Serbien und Bosnien-Herzegowina große Protestbewegungen, die bis heute andauern und über die wir hier in den Medien aber leider nur sehr wenig erfahren. Interessant ist, dass die Demonstrierenden in beiden Ländern Bezug auf einander nehmen und sich gegenseitig unterstützen.
In Bosnien-Herzegowina löste der Tod des 21-jährigen David Dragicevic im März 2018 eine massive Protestwelle aus. David war in Banja Luka tot in einem Fluss gefunden worden. Die Polizei bezeichnete ihn als drogenabhängigen Einbrecher, doch sein Vater und seine Freunde waren überzeugt davon, dass er gefoltert und ermordet wurde und dass die Behörden dies vertuschen wollten. Schon eine Woche später forderten Demonstrant*innen in Banja Luka die Aufklärung der Umstände von Davids Tod. Mittlerweile hat die Facebookgruppe „Gerechtigkeit für David“ über 230.000 Mitglieder, Zehntausende gingen immer wieder in Banja Luka auf die Straße, auch in Sarajewo und anderen Städten gab es Proteste. In Banja Luka forderten Demonstrant*innen jede Woche Aufklärung über Davids Schicksal, aber auch ein Ende von politischer Willkür, Machtmissbrauch und Korruption.
Im Jahresbericht vom Vorjahr hatten Mitarbeiterinnen aus Serbien über die großen Proteste nach der manipulierten Wahl von Aleksandar Vucic zum Präsidenten berichtet, die sich auch gegen den öffentlich-rechtlichen Fernsehsender RTS und andere Medien richteten, welche die Proteste ignorierten oder die Demonstrant*innen beschimpften.
Am 8. Juni gab es in ganz Serbien Proteste gegen die Erhöhung der Benzinpreise. Zwei Tage später nahmen Menschen in Bosnien-Herzegowina dieses Signal auf. Am 10. Juni blieben Autofahrer*innen im ganzen Land zwischen 17 und 18 Uhr stehen und blockierten so die Straßen und Autobahnen. Sie protestierten dagegen, dass die Benzinpreise zum dritten Mal erhöht wurden, obwohl der Ölpreis stabil geblieben war. Aber eine politische Perspektive fehlte. Bei den Wahlen im Oktober gewannen wieder die nationalistischen Parteien. Einer der drei Präsidenten Bosnien-Herzegowinas wurde Milorad Dodic, der seit Jahren die Abspaltung der serbischen Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina fordert.
In Serbien wurde im November der Oppositionspolitiker Borko Stefanovic bei einer regionalen Demonstration zusammengeschlagen und schwer verletzt. Da die Tatverdächtigen in enger Beziehung zur Partei von Präsident Vucic standen, war dies das Signal für neue Massenproteste. Präsident Vucic erklärte daraufhin, selbst wenn fünf Millionen demonstrieren gingen, würde er seine Politik nicht ändern. Serbien hat 7 Millionen Einwohner. Damit gab er den Demonstrierenden ein neues Motto. Unter dem Slogan „1 von 5 Millionen“ zogen am 22. Dezember 40.000 Menschen durch Belgrad zum Gebäude des Senders RTS. Im Portal balkanstories vom 24.12.18 verglichen Teilnehmer*innen die Stimmung auf der Demonstration mit den Protesten im Jahr 2000, die zum Ende der Herrschaft von Slobodan Milosevic geführt hatten. Am 29.12.18 wuchs die Zahl der Demonstrant*innen in Belgrad auf über 50.000 an. Der erste Redner, Branislav Trifunovic, erklärte die Solidarität der Demonstrant*innen mit der Bewegung „Gerechtigkeit für David“ in Bosnien. Die Kundgebungsteilnehmer*innen forderten u. a. den Rücktritt des Innenministers und Sendezeit bei RTS.
In Banja Luka nutzten die Behörden die Weihnachtsfeiertage, um die Bewegung „Gerechtigkeit für David “ zum Schweigen zu bringen. Die Demonstrationen wurden brutal aufgelöst, Davids Vater Davor wurde für drei Tage inhaftiert. Nach seiner Freilassung tauchte er unter, da er wegen Aufruhrs angeklagt werden sollte. Große Demonstrationen gibt es im Moment, Ende Februar 2019, nicht mehr, aber noch immer kommen jeden Tag um 18 Uhr in Banja Luka Menschen zusammen, die Aufklärung über den Tod von David fordern. Auch in Serbien protestierten seit dem 8. Dezember 2018 jeden Samstag Zehntausende in allen großen Städten gegen Unterdrückung Andersdenkender, die Gleichschaltung der serbischen Medien, Machtmissbrauch und Willkür. Bisher lehnen Vertreter des Regimes jeglichen Dialog mit den Demonstrierenden ab.
In beiden Ländern werden die Teilnehmer*innen der Proteste eingeschüchtert, müssen um ihre Freiheit und ihre Arbeitsplätze fürchten. Viele schwanken zwischen Protest und dem Gedanken an Auswanderung hin und her.
Wie sich die politische Situation in den Stimmungslagen der Menschen vor Ort wiederspiegelt erfahren Sie in den Texten unserer Mitarbeiter*innen und der jugendlichen Teilnehmer*innen der Begegnungen im kommenden Jahresbericht. Dieser wird der Mitte April 2019 erscheinen und dann hier zum Download verfügbar sein. Alternativ können Sie auch Druckexemplar kostenlos anfordern.