Liebe Unterstützer*innen,

das diesjährige Dialogseminar für Israel* innen und Palästinenserinnen liegt nur wenige Monate zurück. Als wir uns nach zwei herausfordernden Wochen von diesen beeindruckenden Frauen verabschiedeten, ahnten wir nicht, dass die Region eine so brutale politische Zäsur erfahren würde. Der Angriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen hat uns zutiefst schockiert und bestürzt.

In Reaktion auf diesen Angriff und die fortdauernden Raketenangriffe der Hamas führt die israelische Regierung nun einen Krieg, der bereits unzählige zivile Opfer im Gazastreifen gefordert hat und dessen Ende oder gar eine über das Kriegsende hinausführende Lösung im Moment nicht abzusehen ist.

Unsere Partnerinnen in Israel und Palästina berichteten uns, dass mehrere israelische Teilnehmende Verwandte und Freundinnen beim Angriff der Hamas verloren haben oder Menschen kennen, die als Geiseln verschleppt wurden. Ein palästinensischer Teilnehmender des Dialogseminars 2019 wurde in seinem Dorf im Westjordanland von israelischen Siedlern erschossen. Er war einer von vielen jungen Menschen in Israel und Palästina, die die Spirale aus Hass, Entmenschlichung und Gewalt durchbrechen wollen. Wir trauern mit unseren Partner*innen um alle Opfer und befürchten, dass es noch viele weitere geben wird.

Sarah T. (Name geändert), eine israelische Mitarbeiterin unserer Partnerinnenorganisation Seekers (Name geändert), beschrieb die derzeitige Lage vor wenigen Tagen so: „Wir alle verlieren hier jedes Zeitgefühl. Wir sind völlig überwältigt. Im vergangenen Monat haben wir Vorstandstreffen abgehalten, wir sind alle über Telefon und Internet miteinander in Kontakt. Es gibt eine Messengergruppe, in der unser Team und unsere Aktiven sich austauschen können. Diese Situation ist extrem herausfordernd und wir haben große Mühe, zusammenzuhalten. Die Überwachung der sozialen Medien macht es für viele von uns sehr schwer, sich zu äußern, vor allem selbstverständlich für die palästinensischen Aktiven, sowohl aus dem Westjordanland aber auch für die, die die israelische Staatsangehörigkeit haben. Selbst „sichere“ Messenger fühlen sich nicht mehr sicher an. Ich habe ein uni-nationales digitales Treffen für die jüdisch-israelische Gruppe organisiert, Amara (Name geändert) bereitet gerade ein Treffen für die Gruppe der 48er-Palästinenserinnen vor. Gerade können wir vor allem als Einzelpersonen etwas tun, wenn sich aber abzeichnet, dass die Zeit dafür reif ist, werden wir wohl als erstes ein Wochenendseminar für alle Aktiven organisieren, um mit einer gemeinsamen Aufarbeitung anzufangen. Vorher werden wir versuchen, einzelne Treffen für jede der drei Gruppen (Palästinenserinnen aus dem Westjordanland, 48-Palästinenserinnen, jüdische Israelis) zu organisieren. Jetzt gerade sind wir vor allem damit beschäftigt, Seekers als Organisation aufrechtzuerhalten. Karim (Name geändert, palästinensischer Koordinator im West-jordanland), Leah (Name geändert, israelische Koordinatorin) und ich telefonieren regelmäßig miteinander, mit unserem Team und den Teilnehmenden (…). Wir wissen auch, dass unsere Aktiven teilweise regelmäßig untereinander telefonieren. Gerade ist es sehr schwer, ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen, aber wir wissen, dass als Organisation weiterzumachen der einzige Weg ist, auch wenn wir nicht jeden Tag daran glauben. Ich schreibe ‚wir‘, aber selbstverständlich erleben wir alle die Situation unterschiedlich – ich schätze, eure Medien zeigen die brutale Situation im Westjordanland; die israelischen Medien tun das kaum. Hier in Tel Aviv zu leben, ist trotz der Raketen sicher. Eine der größten Herausforderungen für uns ist es wahrscheinlich gerade, mit den unterschiedlichen Berichterstattungen umzugehen, mit denen wir uns jeweils konfrontiert sehen, aber darum können wir uns gerade nicht kümmern. Einige Palästinenser*innen aus dem Westjordanland haben unsere gemeinsamen Chatgruppen verlassen – dies ist auch in der Vergangenheit schon passiert, damals kamen sie wieder zurück, ich hoffe, sie kommen rechtzeitig wieder. Auf individueller Ebene bleibe ich gleichzeitig mit den allermeisten von ihnen in Kontakt. (…)“

Sarahs kurzer Bericht zeigt eindrücklich, welch einen tiefen Einschnitt dieser Krieg bedeutet: auch für Aktivist*innen, die teilweise seit Jahrzehnten miteinander zusammenarbeiten, bedeutet er eine Zerreißprobe.

Ob und wie in dieser Situation ein „Dialog über Grenzen hinweg“ im Rahmen von Dialogseminaren, wie wir sie seit 2002 (nach der „Ersten Intifada“ in einer ebenfalls von Gewalt geprägten Situation) in Deutschland organisieren, möglich ist, wissen wir im Moment noch nicht. Allerdings gibt es auch in dieser schmerzvollen Zeit auf beiden Seiten weiterhin Menschen, denen es Kraft gibt, mit der „anderen Seite“ in Verbindung zu bleiben und gemeinsam an Gewaltfreiheit und Verständigung festzuhalten. Wir sind mehr denn je überzeugt davon, dass es diese direkten menschlichen Kontakte sind, die helfen können, Hass und Feindschaft zu überwinden und die Chance auf eine gewaltfreie Zukunft zu erstreiten. Eben diese Bestrebungen wollen wir gerade jetzt weiter stärken und unterstützen.
Wir haben deshalb entschieden, trotz aller Unsicherheit über die Entwicklungen vor Ort, die Möglichkeiten für Gespräche und Begegnungen im kommenden Sommer offen zu halten und z. B. Räume und Flüge zu reservieren. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt mit unseren Partner*innen vor Ort und werden in den nächsten Monaten besprechen, welche Bedürfnisse sie haben und welche Möglichkeiten sie sehen, Begegnungen zu organisieren und wie solche Treffen aussehen könnten, um in dieser – für beide Seiten (re-)traumatisierenden – Zeit eine stärkende Wirkung zu entfalten.

Wir bleiben konsequent und solidarisch an der Seite aller, die sich in Israel und Palästina gewaltfrei für eine gerechte Zukunft einsetzen, in der alle in Sicherheit leben können.