Die Situation im Westjordanland hat sich 2022 immer weiter zugespitzt. Karim A.*, palästinensischer Koordinator der Partnerorganisation Seekers*, sprach im Januar 2023 mit Katharina Ochsendorf über die Entwicklungen des vergangenen Jahres, die aktuelle Lage im Westjordanland, Aussichten für die Zukunft und die Konsequenzen, die die politischen Entwicklungen für die binationale Dialogarbeit haben.

Katharina O.: Hallo Karim, wie geht es dir? Wie läuft es mit dem Dialogprojekt?

Karim A.: Ich ertrinke buchstäblich in meiner Arbeit, es war schon ein sehr arbeitsreiches Jahr bisher. (…) Aber mehr oder weniger (…)
Das Projekt ist an einem Punkt, an dem es vom Reden und Planen zur praktischen Arbeit übergeht. Es geht im Moment darum, (…) Teilnehmer*innen zu finden, ein Team zusammenzustellen und einen Zeitplan für das Jahr zu erstellen. Es ist fast geschafft, wir geben dem Ganzen gerade den letzten Schliff.
Zwischenzeitlich gab es Probleme in unserer Gruppe, weil die israelische Armee ins Haus einer unserer Aktiven, Rita*, eindrang und es verwüstete. Im Haus lag überall die Kleidung der Familie herum, (…) die Familie musste alles waschen und aufräumen. Sie nahmen das Auto der Familie mit. Und dieses Mal waren erstmals auch weibliche Soldatinnen dabei, sie durchsuchten die Frauen im Haus, einschließlich unserer Teilnehmerin – und sie taten es nicht gerade freundlich. Rita war sehr schockiert davon und sie war wütend. Ich habe für ihre Wut vollstes Verständnis, ich verstehe ihre Gefühle und woher sie kommen.
Allerdings will sie nun mit keinem Israeli sprechen oder irgendwie interagieren. Und das hat auf andere Teilnehmende der Gruppe ausgestrahlt und unseren Gruppenprozess in Vorbereitung auf binationale Treffen ausgebremst. Ich weiß, dass es ein Gefühl ist und es einen gemeinsamen Prozess braucht, um das zu verarbeiten. Kommende Woche haben wir ein Treffen der palästinensischen Gruppe geplant, ich hoffe, dass es stattfinden wird.
Manchmal passieren hier sehr unerwartete Dinge die Prozesse verlangsamen oder dazu führen, dass wir alle Pläne doch wieder ändern müssen (…).

KO: Wann ist die Armee in Ritas Haus eingedrungen?

KA: Das war vor vier oder fünf Tagen. Die Armee ist zurzeit fast jede Nacht in der Stadt. Letzte Nacht (…) wurde jemand erschossen. Das neue Jahr ist vielleicht erst elf Tage alt, aber es sind schon sieben oder acht Personen getötet worden, darunter vier Kinder. (…)

KO: Das ist unglaublich schlimm. Wie ist denn die Situation jetzt? In unserem letzten Gespräch erzähltest du, die Stadt sei in einem regelrechten Belagerungszustand.

KA: Ja, sie haben die Belagerung beendet, nachdem sie die Anführer der „Höhle der Löwen“1 getötet haben. (…)
Es gab 2022 eine Zeit, in der ich selbst auch einige Freund*innen bei Angriffen der Armee verloren habe. Aber nun ist alles – ich scheue mich, zu sagen, alles ist wieder „normal“, weil es nicht normal ist –, sagen wir mal, wieder „wie gewohnt“.
Hier kann einfach jederzeit etwas passieren: Die Armee könnte kommen, es könnte eine Schießerei geben, eine Tötung (…) manchmal kommt die israelische Armee, erschießt jemanden und ist buchstäblich nach fünf oder zehn Minuten wieder weg.
Letzten Freitag wurde jemand in der Nachbarschaft meines Großvaters verhaftet. Es gab eine Menge Schüsse und eine Explosion und die dortigen Nachbar*innen riefen mich an. (…) Sechs oder sieben Fenster des Hauses waren durch die Explosion zersprungen und Glas fiel auf die Köpfe von Passant*innen herunter. Also musste ich die Fenster reparieren. (…)
Das ist Intifada. Vielleicht sehen die Leute das nicht, oder sie können es nicht sehen, aber dieser Tage ist es schlimmer als in der zweiten Intifada. (…) Wenn wir uns die Statistiken ansehen, ist es in manchen Monaten schlimmer als während der zweiten Intifada. Denn im letzten Jahr, ich kann mich nicht mehr genau an die Zahl erinnern, aber es sind mehr als 200 Palästinenser*innen getötet worden. 2 (…)
Und jetzt gibt es in Israel eine neue Regierung. Die startet jetzt das erste miese neue Gesetz, dass legitimieren soll, allen Palästinenser*innen mit israelischer Staatsangehörigkeit, die irgendwie mit dem Widerstand gegen die Besatzung in Verbindung gebracht werden können, oder Geld von der Palästinensischen Autonomiebehörde bekommen (…), die Staatsangehörigkeit zu entziehen und sie dann ins Westjordanland oder nach Gaza zu schicken. (…) Sie werden in zwei Wochen darüber abstimmen3 (…).
In den USA war die erste Reaktion auf das Wahlergebnis: „Wir sind nicht sehr glücklich darüber, mit Leuten wie Ben Gvir4 zu arbeiten.“ Sogar die USA, der stärkste Verbündete Israels, sagen das. (…) Er ist ein so schrecklicher Mensch.
Netanjahu ist nicht in der besten Situation, er musste eine Menge Kompromisse eingehen, um eine Koalition zu bilden. De facto tut er das, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Und das alles muss die palästinensische Bevölkerung ausbaden.

KO: Was waren jenseits der Wahlen Wendepunkte im Jahr 2022? Ich erinnere mich z.B. an die Ermordung der Journalistin Shireen Abu Akleh, aber es ist einiges passiert in diesem Jahr.

KA: Shireen Abu Akleh ist eine der wenigen Personen, die ich nicht persönlich kenne und um die ich dennoch viel geweint habe. Sie war irgendwie mit jeder*m einzelnen Palästinenser*in verbunden, sie war eine „Partnerin“ in unserem Schmerz, durch die Intifada hindurch. Aber ein weiterer Wendepunkt, (…) ich glaube im Mai 2022, war, als ein Mann aus Jenin eine kleine Gruppe gründete, um gewaltsamen Widerstand zu leisten (…). Das Besondere ist, dass sie keiner politischen Partei angehören, (…) es gibt keine Spaltung, sie stehen alle unter einer Flagge, ihre „Flagge“ ist der Kampf für den Widerstand.
Die Gruppe fing an, größer zu werden und sich in ganz Palästina zu verbreiten. Sie sind aus zwei Gründen sehr populär geworden: einmal, weil alle Menschen die Nase voll haben von den derzeitigen politischen Parteien, egal welcher. Denn heute kämpfen sie völlig offen gemeinsam mit der israelischen Regierung gegen die Palästinenser*innen; früher taten sie dies noch verdeckt, „von unter dem Tisch aus“, wie wir auf Arabisch sagen. (…) Und dort liegt auch der Ursprung der Gruppe „Die Höhle der Löwen“ oder „Löwen“, die sich dann gründete. (…)
Der andere Grund, warum die Leute diese Art von Widerstand unterstützen, ist nicht, dass sie grundsätzlich gewaltsamen Widerstand befürworten, sondern weil diese Gruppen im Grunde die einzigen Menschen sind, die sie verteidigen. Die Einzigen, die ihre Rechte verteidigen, die Einzigen, die da sind, wenn die Armee in die Stadt eindringt oder so etwas. Ja, sie greifen die Armee an und es gibt Tote und Verletzte. Aber seien wir ehrlich, ob man nun für oder gegen gewaltsamen Widerstand ist, es ist nach jedem internationalen Abkommen ein Recht, sich zu verteidigen.
Wenn wir, den Oslo-Verträgen folgend, sagen, dass das Westjordanland und Gaza der „palästinensischen Staat“ sind, ist es ein Recht, sich zu verteidigen. Aber du kennst mich, ich bin nicht auf der Seite des gewaltsamen Widerstands, ich bin im gewaltlosen Widerstand. (…)
Es gab viele Wendepunkte im vergangenen Jahr, es war eines der schrecklichsten Jahre überhaupt, ein wirklich hartes Jahr.
Die Menschen verlieren die Hoffnung, oder sie haben sie bereits verloren, weil z.B. bei der Ermordung von Shireen Abu Akleh vor den Augen der ganzen Welt sehr offensichtlich war, wer sie getötet hat. Ich saß vor dem Fernseher, ich arbeitete, aber verfolgte ständig die Nachrichten (…), alle verfolgten die Nachrichten (…). Die Leute waren sehr hoffnungsvoll, dass es irgendwelche Konsequenzen geben würde, dass endlich jemand für so etwas bestraft werden würde, und jetzt, Monate danach, ist nicht wirklich etwas passiert. So geben Menschen die Hoffnung auf: Denn wer bin ich im Vergleich zu Shireen Abu Akleh? Wenn ich selbst getötet werde, wer tritt dann für meine Rechte ein? Wer bin ich schon, wenn meine Regierung gegen mich kämpft? Und sie sagen es sogar laut, so nach dem Motto: „Unser Handeln passt dir nicht? Fuck you, dann erschießen wir dich.“ Gestern Abend gab es Zusammenstöße mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und dann nachts welche mit der israelischen Armee, am gleichen Tag.
Es gibt niemanden, der die Rechte von uns Palästinenser*innen verteidigt. (…) Die Korruption in unserer Regierung ist so unverhohlen und schamlos, sie sagen dir ganz direkt: „Ja, wir sind korrupt und wir scheren uns einen Scheiß um dich, wenn dir das nicht passt, schicken wir dich einfach ins Jericho-Gefängnis“ – das ist das schlimmste Gefängnis überhaupt, es ist vergleichbar mit Guantanamo.

KO: Wenn die Leute die Hoffnung verloren haben, wer kommt dann zu Seekers*, wer macht noch bei den Dialogen mit?

KA: Menschen, die noch etwas Hoffnung haben, so wie ich. Lass es mich so sagen: dein Gesichtsausdruck, deine Reaktion jetzt, nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, war die gleiche Reaktion, die Hamza*, einer der Moderatoren, nach dem Treffen der Westjordanlandgruppe in Vorbereitung auf das binationale Wochenende hatte. Er sagte zu mir: „Ich war optimistisch, als ich hier ankam, jetzt bin ich deprimiert.“ Was ich sagen wollte, ist: Wir schöpfen unsere Hoffnung aus der Depression. Du kommst an einen Punkt, an dem du vor der Entscheidung stehst: Entweder lege ich mich einfach hin, beweine die Situation und kann nichts dagegen tun, oder ich (…) versuche zumindest, etwas zu ändern, auch wenn es nur eine kleine Sache ist. Es ist eine Art mentale Grundhaltung.

KO: Wie war das binationale Treffen im Dezember?

KA: (…) Es konnten nicht alle teilnehmen, aber es waren etwa 12 Personen. Es war keine sehr große Gruppe, es ist fast unmöglich, alle zusammenzubekommen. (…) Die Teilnehmenden waren alle bereits länger aktiv bei Seekers. (…) Seekers hat es wirklich geschafft, einen Raum für die Teilnehmer*innen zu schaffen, ihnen zuzuhören und ihnen zu erlauben, (…) sich mitzuteilen, und das ist eines der zentralen Elemente dieser Dialoge. Wir sehen das immer wieder: Die Leute sind deprimiert, enttäuscht, sie kommen mit vielen Themen, über die sie sprechen wollen. (…) Es ist wichtig, die Gefühle zu verarbeiten. Wir gehen deprimiert ins Seminar, (…) mit all unseren Enttäuschungen, und wir gehen normalerweise ohne sie heraus. Es ist ein Ort, an dem wir (…) unser Herz ausschütten, die Last von unseren Schultern nehmen. Besonders dieses letzte binationale Treffen im Dezember hat mich sehr beeindruckt. (…) Eine Aussage, die ich von mehreren Teilnehmern gehört habe, war: „Endlich haben wir das Gefühl, wirklich etwas zu tun, mehr als nur zu reden“.

KO: Woher nimmst du selbst noch Hoffnung?

KA: Als ich 12, 13 Jahre alt war, lebte ich mitten in der zweiten Intifada. (…) Das war die traumatisierende Zeit, in meiner Kindheit. Es war eine sehr harte Zeit. (…) Ein Panzer stand buchstäblich vor unserem Haus und auf den umliegenden Dächern waren überall Scharfschützen. Sie schossen auf alles, was sich bewegte – (…) Katze, Hund, Mensch, ganz egal. Also verhingen wir alle Fenster. Ich, mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister blieben 15 Tage lang in einem Raum, am Boden kauernd. Es gab kein Wasser, keinen Strom, und wir mussten mit dem auskommen, was der Kühlschrank hergab. In den ersten Tagen kamen wir uns sehr wohlhabend vor: wir aßen zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Fleisch, Huhn und Fisch, weil diese Lebensmittel am schnellsten verderben. (…) Damals lebten meine Großeltern und mein Onkel mit seiner Familie ebenfalls in unserer Stadt. (…) Aber es gab in diesen Tagen, (…) kein Telefon, weil es keinen Strom gab. Meine Mutter hatte Batterien und wir hörten Radio, ganz leise, damit es niemand draußen mitbekam. Plötzlich konnte ich im Gesicht meines Vaters sehen, dass irgendetwas nicht stimmte. Er sagte, er hätte seinen Bruder schreien hören, dass sie das Haus über dem Kopf seiner Familie zerstört hätten. Es war Gott sei Dank nicht mein Onkel, das fanden wir jedoch erst eine Woche später heraus. Aber es ist der Familie eines anderen passiert, und es ist vielen Familien passiert in dieser Zeit.
Was ich sagen möchte und warum ich diese Geschichte gerade erzähle ist Folgendes: Als ich in der achten Klasse war, gab es einen Lehrer, der irgendwie mit Seekers verbunden war, jedenfalls erzählte er mir von Seekers und den Dialogbegegnungen in Europa.
Er bat darum, mit meinem Vater zu sprechen. Ich war einfach nur begeistert und dachte „Wow, ich fahre nach Italien“ – ich wusste seinerzeit noch nicht einmal, wo Italien liegt.
Mein Vater begrüßte die Idee wirklich sehr. Jahre später habe ich meinem Vater die Frage gestellt: „Warum hast du mir damals erlaubt, die andere Seite zu treffen? Trotz allem, was wir durchgemacht haben, all dem Töten, der Zerstörung deines Elternhauses und allem, was dir zugestoßen ist?“
Er antwortete: „Wir haben viele Jahre lang versucht, Widerstand zu leisten, vielleicht ist es an der Zeit, die andere Seite auf gewaltfreie Weise zu treffen. Vielleicht ist es Zeit, das andere Gesicht der anderen Seite zu sehen.“ – Er formulierte das unter anderem so, weil er selbst auch einige Zeit in einem israelischen Gefängnis war, allerdings bereits während der ersten Intifada. (…)
Hoffnung gibt es immer. Aber manchmal braucht man entweder Hilfe von Menschen, die einem zeigen, wo man die Hoffnung findet, oder man muss den Menschen um einen herum zeigen, wie man die Hoffnung nutzt und wo man die Hoffnung findet. (…)

KO: Wie siehst du das kommende Jahr 2023? Bist du optimistisch, ängstlich…?

A: (….) Ich bin sehr optimistisch in Bezug auf 2023 auf einer persönlichen Ebene. (…) Ich bin auch sehr optimistisch, was die kommenden Monate des Projekts angehen. Nach unserem binationalen Wochenende habe ich das gleiche Gefühl wie unsere Teilnehmenden. Man kann sehen, dass wir etwas Greifbares tun werden, dass wir dieses Jahr im Projekt etwas erreichen werden. Das ist meine Aussicht innerhalb des kleinen Kreises, in dem ich arbeite. Wenn ich den Kreis vergrößere, wird die Aussicht umso deprimierender, je größer der Kreis wird. (lacht) Ich bin ein sehr optimistischer Mensch. (…) Gib mir irgendeine Geschichte, gib mir irgendeinen Anlass, gib mir irgendeine Situation, ich zeige dir eine positive Seite. (…) Ich weiß nicht wie ich das mache, aber so ist es. (….)

KO: Beim unserem letzten Gespräch sagtest du, dass die neue israelische Regierung in gewisser Weise auch etwas Gutes hat, weil sie die Menschen dazu bringen würde, der Realität der politischen Situation ins Auge zu sehen. Siehst du das immer noch so?

KA: Nun, jede Situation hat ihre Vor- und Nachteile. Als ich das sagte, zitierte ich eigentlich meinen Vater und ich war überzeugt von dem, was er sagte. Es könnte auch ein Eigentor für die Israelis sein, weil sich jetzt die Politiker*innen der neuen Regierung gegenseitig attackieren. Wie Ben Gvir, der Netanjahu angreift, weil er angeblich das Land zerstört, es in einen Bürgerkrieg führt (…).
Aber es ist ein sehr hoher Preis, den die Palästinenser*innen zahlen. Und das, was jetzt gerade passiert ist erst der Anfang.Es gibt viele Hinweise auf das, was den Palästinenser*innen jetzt bevorsteht, was sie auch bereits durchmachen, es wird offensichtlicher. (…) Die Palästinensische Autonomiebehörde hat sich gerade an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gewandt und die Ergebnisse waren für die israelische Regierung nicht sehr erfreulich. Also beschloss die israelische Regierung, die palästinensische Regierung und alle Palästinenser*innen kollektiv zu bestrafen. Sowas passiert schon seit vielen Jahren. (…) Das geschieht zum Beispiel durch das Zurückhalten von Steuergeldern. Die palästinensische Autonomiebehörde bekommt aus dem Grenzverkehr, Import und Export, Steuergelder, das ist unser Recht. Dieses Geld stellt einen großen Prozentsatz des palästinensischen Einkommens dar.
Denn die durchschnittlichen Monatsgehälter, die die Autonomiebehörde auszahlt, betragen 650 Millionen Schekel. Das ist für die Regierungsangestellten und Angestellte wie Ärzt*innen, Lehrer*innen, und so weiter. Dieses Geld zurückzuhalten bedeutet, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nicht in der Lage ist, die vollen Gehälter zu zahlen. Vor ein paar Monaten bekamen die Leute nur 90 oder 85% ihres Gehalts (…) und wir erwarten für die nächsten Monate eine wirklich schwierige Situation. Die wirtschaftliche Lage ist wirklich ein Schlüsselthema in unserem Konflikt. Durch die Wirtschaft können sie die Palästinenser*innen leicht kontrollieren.
Was sie nicht verstehen ist, dass je mehr Druck man auf die Palästinenser*innen ausübt, desto mehr Anschläge passieren werden. Man kann die Menschen nicht in den Wahnsinn treiben und dann meinen, dass das keine Konsequenzen hat.
Seit 2015 sind viele Messerstechereien geschehen, von einigen Leuten wurde die Zeit deshalb „die Messer-Intifada“ genannt. Diese Anschläge wurden von Einzelpersonen verübt, nicht von einer bestimmten Gruppe oder politischen Partei.
Aber ein Teil dieser Anschläge waren etwas anderes: (…) Es gab zum Beispiel eine Frau Mitte 40, die ein Messer in der Hand hielt und einfach langsam auf einen Checkpoint zulief. Sie ist nicht einmal gerannt. (…) Sowas haben wir in den letzten Jahren oft erlebt. Diese Frau hatte einfach alle Hoffnung verloren und beschloss, zu sterben. (…) Selbstmord ist in ihrer Religion verboten, aber wenn man vom Feind getötet wird, ist man ein*e Märtyrer*in. Manche Leute denken, dass es so (…) funktioniert. Also beschließen sie, das zu tun: sie lassen sich von der Armee erschießen (…). Weil sie die Hoffnung verloren haben, weil wir unsere Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Es ist eine Strategie, die palästinensische Bevölkerung am Rande der Armutsgrenze zu halten. Wenn alle deine Grundbedürfnisse gedeckt sind (…) wirst du anfangen, darüber nachzudenken, wie du die Insel der Besatzung verlassen kann, wie du die Besatzung beenden kannst? Aber wenn ich unterhalb der Armutsgrenze lebe, wenn ich meine Kinder nicht ernähren kann (…), dann verliere ich die Hoffnung. (…)

  1. Auch „Lions‘ Den“, militante Widerstandgruppe im Westjordanland ↩︎
  2. B`Tselem und andere Organisationen berichten, dass 2022 das tödlichste Jahr für Palästinenser*innen in diesem Konflikt war seit 2004. Aufschlüsselung unter: https://www.btselem.org/press_releases/20230108_the_occupied_territories_in_2022_largest_number_of_palestinians_killed_by_israel_in_the_west_bank_since_2004 ↩︎
  3. Das Gesetz „Entzug der Staatsbürgerschaft oder des Aufenthaltsstatus eines Terroristen, der eine Entschädigung für die Begehung einer terroristischen Straftat erhält“ wurde am 30.01.2023 in erster Lesung verabschiedet, Mitte Februar wurde es final beschlossen. Gesetz ermöglicht es, Bürgern wegen „Terror“-Delikten die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Es sieht vor, dass „des Terrorismus für schuldig befundenen“ Personen die Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, „wenn nachgewiesen wird, dass sie von der Palästinensischen Autonomiebehörde Geld für ihre Taten erhalten“. Zudem erlaubt es, diese Personen in Palästinensische Autonomiegebiete umzusiedeln. ↩︎
  4. Der rechtsextreme Politiker ist der israelische Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzender der Partei „Otzma Yehudit“. ↩︎