Bara’ah I. ist 20 Jahre alt und kommt aus Yafa an-Naseriyye, einer arabischen Stadt in Israel in der Nähe von Nazareth. Für ihr Studium der Soziologie, Anthropologie und Kommunikationswissenschaften zog die Palästinenser*in mit israelischer Staatsangehörigkeit nach Tel Aviv. Mit Ilona Stahl sprach sie beim Dialogseminar für Frauen* im August 2023 über ihre Erfahrungen im Seminar und darüber, wie die Teilnahme sie verändert hat.

Ilona Stahl: Möchtest du ein bisschen über dich selbst erzählen und über deine Motivation, zum Seminar zu kommen?


Bara’ah I.: (…) Ich heiße Bara’ah. Das bedeutet Unschuld oder unschuldig. Mein Großvater wurde von der israelischen Armee verhaftet. Bis heute ist er im Gefängnis. Er war Taxifahrer; als ich geboren wurde, hatte er Dienst: Zwei junge Männer stiegen ein und er fuhr sie nach Tel Aviv. Er kannte sie nicht, er hat sie lediglich gefahren. Aber die Regierung dachte, dass er Teil ihrer Gruppe war. Denn die beiden Männer verübten ein Selbstmordattentat. Sie sprengten sich im Hauptbahnhof von Tel Aviv in die Luft und töteten 23 Menschen. Sie begingen Selbstmord und rächten sich für alles, was 2001 während der Intifada geschah. (…)
Bis heute ist mein Opa zu Unrecht im Gefängnis. Mittlerweile ist er 80 Jahre alt und hat 20 Jahre in Gefangenschaft verbracht, es werden noch weitere 12 Jahre sein, insgesamt 32 Jahre. (…) Er darf seine Frau nur einmal im Monat sehen, seine Kinder und seine Geschwister, aber uns nicht. (Anm.d.Red: Telefongespräche zwischen Bara’ah und ihrem Großvater sind jedoch möglich) (…) Eigentlich hat mein Großvater darauf bestanden, dass ich hierher komme und seine Geschichte erzähle. (…)
An der Universität bezeichne ich mich nicht als Palästinenserin, das könnte mein Studium gefährden. Ich halte mich aus politischen Dingen heraus, denn besonders Palästinenser*innen dürfen in meinem Land nicht frei reden, nicht über ihre Rechte oder ihre Geschichte, oder über die Leute in den anderen Teilen Palästinas, im Westjordanland oder in Gaza.
Wir leben in keiner guten Situation in Israel. Wir trauen uns nicht, in der Öffentlichkeit unsere Sprache zu sprechen, wir lernen in der Schule alles über ihre jüdische Geschichte und nichts über unsere.
Und in der arabischen Gesellschaft gibt es ein großes Gewaltproblem. Es gibt viele Morde und illegalen Waffenbesitz und die Polizei tut nicht viel dagegen. So hat meine Mutter ständig Angst um mich. Wir leben auf einer Blutspur. Letztlich lebe ich im jüdischen Sektor sicherer, denn dort wird Kriminalität unter Kontrolle gehalten. Doch wenn ich in der Universität in Tel-Aviv bin, hat meine Mutter Angst, ich könnte angegriffen werden, weil ich arabisch spreche. Vor zwei Monaten kam jemand aus dem Westjordanland und beging ein Selbstmordattentat in Tel-Aviv wegen all der Dinge, die in Jenin geschehen waren. Ich war ganz in der Nähe und meine Mutter war in Panik.

IS: Wie ist deine Erfahrung hier?

BI: Wir sind in Deutschland und hier können wir über all unsere Erfahrungen reden, über die wir noch nie gesprochen haben, über alle Probleme, die wir in unserem Land nicht besprechen können. Es ist so wichtig, dass wir durch das Seminar den Israelis erklären können, wie es uns geht.
Es ist so angenehm, hier Teil der palästinensischen Gruppe zu sein. In unseren Ländern können wir uns nicht als eine Gemeinschaft fühlen. Mit allem, was Israel tut, um Palästina zu spalten, wissen wir wenig voneinander. (…) Hier fühlte ich mich wirklich sicher, ein seltenes Gefühl.

IS: Was nimmst du aus dem Seminar mit? Im Positiven und im Negativen, was wird bleiben?


BI: (…) Eine Menge. All die Freundschaften mit den palästinensischen und israelischen Frauen, die ich hier geschlossen habe. Es fühlt sich gut an, dass die jüdischen Frauen nun von der Besatzung wissen und erkennen, dass Israel nicht so ist, wie sie es sich vorgestellt haben, nicht so, wie man es ihnen in der Schule, an der Universität und beim Militärdienst erzählt hat. Dort wurden sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie haben nicht selbst entschieden, auf welcher Seite sie stehen, oder was sie tun oder sagen, was sie überhaupt verstehen sollen. Nun haben sie all die Geschichten der palästinensischen Frauen gehört und können sie an andere weitergeben. Denn ihre Stimmen sind stärker als unsere. Wir haben das Gefühl, dass unsere Stimmen nicht so stark sind, wie ihre (…), weil sie die Macht haben und eine Menge Privilegien. Sie werden besser gehört.
So können sie versuchen, etwas zu verändern. Sie können unseren Botschaften und Geschichten ihre Stimme verleihen und sie für andere Menschen in Israel und weltweit hörbar machen. (…) Es ist wirklich wichtig für mich, dass diese Frauen der Wandel sein können, den ich anstrebe. (…)
Negativ ist, zu wissen, dass die palästinensischen Frauen aus dem Westjordanland in ihre schreckliche und harte Realität zurückkehren werden, wo das Militär in ihr Land einfällt und viele Menschen tötet. (…) Kinder sterben dort. Es gibt Gewalt. (…) Und Frauen und Mütter, die sich von ihren Söhnen verabschieden, weil diese als Märtyrer sterben werden. (…) Es fällt mir wirklich schwer zu verstehen, dass sie in eine solche Welt und Gesellschaft zurückkehren sollen, in der sie nicht sicher sind und wo die Regierung oder die Gesellschaft sie verurteilen werden. (…) Der Gedanke, dass wir uns wegen der Besatzung vielleicht in meinem Leben nicht wiedersehen, und dass, selbst wenn wir uns in Zukunft treffen, es lange dauern und sehr schwer und kompliziert für sie und für mich sein wird, erdrückt mich. (…) Eine der palästinensischen Frauen aus dem Westjordanland, die in Massafer Yatta lebt, hat mir gesagt: „Ich möchte nicht nach Hause fahren, weil ich weiß, dass es kein gutes Gefühl sein wird, nach Hause zurückzukehren.“ Das machte mich unruhig und ich fühlte mich niedergeschlagener denn je. (…)
Ich weiß, dass ich zurückkehren muss, um all die Dinge, die ich gelernt habe, all die Geschichten, die ich gehört habe, an andere Menschen z.B. bei Veranstaltungen weiterzugeben. (…)

IS: Ist es gefährlich für dich, deinen Kommiliton*innen von deiner Teilnahme am Seminar zu erzählen? Wirst du mit ihnen überhaupt darüber sprechen?


BI: Ich denke, dass ich ihnen irgendwann sagen werde, dass ich hier war. Ich habe bereits erzählt, dass ich an einem arabisch-hebräischen Seminar teilnehme. Ich habe gesagt, dass wir bei diesem Seminar über Frieden und Partnerschaft zwischen uns sprechen wollen. Aber ich habe nicht wirklich über den Konflikt zwischen Israel und Palästina gesprochen, weil ich wusste, dass sie das nicht akzeptieren würden. Aber letztendlich denke ich, dass ich ihnen vom Seminar erzählen könnte. Weil ich stärker bin, als ich dachte. Ich bin stark, ich habe die Energie und die Worte, um ihnen zu erzählen, wo ich gewesen bin und worüber ich gesprochen habe. Ich habe über die Nakba von 1948 gesprochen, die Palästinenser*innen, die in Israel leben – über viele Dinge. Ich habe über die Sprache gesprochen, denn es ist wichtig über Sprachen zu sprechen. Wir haben über unsere Narrative gesprochen und über die Menschen, die wegen der Besatzung getötet und verletzt wurden.
Wir haben über große Themen gesprochen, von denen ich mir nicht einmal vorstellen konnte, dass ich hier darüber sprechen könnte. Ich fühle, dass ich im Vergleich zu vorher stärker geworden bin. Das ist etwas Besonderes, denn ich habe nun das Gefühl, nicht mehr dieselbe Person zu sein, die ich noch vor zwei Wochen war, als ich hierherkam. (…) Ich habe mich verändert. (…) Es fühlt sich länger als zwei Wochen an, mehr wie ein Jahr. Eigentlich wie der Beginn eines neuen Jahres. Wie wenn man am Jahresende aufschreibt, was man im nächsten Jahr tun möchte oder was man an sich ändern möchte. So ging es mir hier auch. An unserem letzten Tag habe ich darüber nachgedacht, was ich alles machen möchte, wenn ich in mein Leben zurückkehre. (…)
Ich möchte echter sein. Ich möchte die Wahrheit sagen und ich möchte stärker sein. Ich habe das Gefühl, dass mein Charakter und meine Persönlichkeit sich hier positiv verändert haben. Ich glaube, dass ich eine Menge zu erzählen habe und viele Dinge, über die ich nachdenken muss. (…)