Das Nachbereitungswochenende war usprünglich als binationales Treffen geplant – ein gemeinsames verlängertes Wochenende für alle Teilnehmer*innen des Frauen*seminars 2019. Doch dann änderte sich die politische Lage und aufgrund der Ausschreitungen zwischen Israelis und Palästinenser*innen innerhalb Israels und dem Krieg mit Gaza war ein gemeinsames Treffen nicht realisierbar und wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Nach Diskussionen im Gesamtteam des Frauen*seminars beschlossen die jeweiligen Koordinator*innen, uni-nationale Treffen zu organisieren.

Während der Corona-Pandemie hatten die meisten der palästinensischen Teilnehmer*innen eine schwere Zeit: Zur Angst vor der Ansteckung mit dem Virus kam die sozio-politische Situation und die durch die Pandemie nochmals verschärfte wirtschaftlichen Situation. Viele der Frauen* waren selbst von Kündigungen betroffen oder haben Familienmitglieder, deren Arbeitsplatz der Pandemie zum Opfer fiel. Wirtschaftlicher Druck und Preissteigerungen der Güter des täglichen Bedarfs verstärken die sowieso schon auf Grund der Besatzungssituation bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Zukunft.
„Die Grundidee des Nachbereitungswochenendes war, sich zum einen über zukünftigen Aktivismus auszutauschen und gemeinsame Ideen zu entwickeln und zum andern, den Frauen* Handlungsoptionen zu geben, um Dampf abzulassen, Frustrationen abzubauen und wieder neue Energie zu gewinnen. Insbesondere dafür war auch der Bewegungsworkshop mit Nancy A.* unter dem Motto: ,Meine Bewegung ist meine Geschichte‘ gedacht. Wir wollten uns auf unseren Körper fokussieren und unsere Emotionen durch Bewegung, aber auch durch kreative Methoden, wie Zeichnen und Sprechen ausdrücken und Kraft und innere Stärke zurückgewinnen“, erklärt die palästinensische Koordinatorin Rana K.*.

Das gemeinsame Wochenende begann am späten Donnerstagnachmittag mit einer Ankommensrunde und spielerischen Übungen, um sich aufzuwärmen und wieder vertraut miteinander zu werden; viele der Teilnehmenden hatten sich während der Corona-Monate nicht gesehen. Schon hier wurde deutlich, wie emotional anstrengend die kommenden Tage werden würden. Viele waren frustriert und deprimiert: Eine der Teilnehmenden hatte aus Angst, an Covid zu erkranken, eine Depression entwickelt und ein Jahr ihr Haus nicht verlassen; bis heute fällt es ihr schwer nach draußen zu gehen. Andere hatten ihre Arbeit verloren und befanden sich nun in einer schwierigen finanziellen Situation. Dazu kamen weitere gesellschaftliche Probleme, wie Belästigungen und öffentliche Bloßstellungen, mit denen die Teilnehmenden in den letzten Monaten konfrontiert waren, die sie wütend und gleichzeitig traurig machten. Akila E.* erzählte von einer Freundin, die in den sozialen Medien einen Beitrag geteilt hatte, der zeigt, wie sie von einem Ladenbesitzer belästigt wurde. Daraufhin teilte Akila E. den Beitrag ebenfalls, um die Freundin zu unterstützen. Zufälligerweise entpuppte sich der Belästiger als ein entfernter Verwandter Akilas, der in Reaktion auf den Facebook-Beitrag ihre Familie bedrohte und schließlich ihren Vater entführte und ihn dazu zwang, sich in einer Stellungnahme in den sozialen Medien für ihr Verhalten zu entschuldigen. Wegen dieses Vorfalls war Akila sehr aufgewühlt.
Eine andere Teilnehmerin veröffentlichte ein Foto von sich in Sportkleidung auf Instagram. Dieses Bild wurde von Menschen aus ihrem Umfeld als zu freizügig empfunden, weshalb diese es ihrer Familie weiterleiteten, die sie daraufhin schlug und im Haus einsperrte.
Viele Teilnehmende berichteten von gewaltvollen Übergriffen und Streit im familiären Umfeld auf Grund von unterschiedlichen Lebensvorstellungen – Situationen, die sich auch in Palästina während der Pandemie verschärft haben.
Während alle das gemeinsame Wochenende mit der Möglichkeit, sich auszutauschen, schätzten, gingen die Meinungen der Teilnehmer*innen in Bezug auf den Bewegungsworkshop auseinander. Carmen F.* teilt ihre Erfahrung: „Nach all dem Stress und den überwältigenden Emotionen war das Wochenende das richtige Format zur richtigen Zeit, zumindest für mich. Ich war mir zwar bewusst, dass ich persönlich eine wirklich schwierige Zeit gehabt hatte, doch ich war mir bis zum Workshop weder der Emotionen, die ich unterdrückte, noch meiner ungesunden Bewältigungsmechanismen bewusst. Normalerweise bin ich eine gesprächige Person, die über jedes Thema ein Gespräch anfangen und bei Bedarf ewig weitermachen kann. Aber wenn man mich bittet, über meine Emotionen zu sprechen, blocke ich ab. Ich spreche nicht gern über meine Gefühle. (…) In solchen Situationen [wie dem Workshop] öffnest du dich. Es ist natürlich kein Muss, aber manchmal ist es notwendig. Komfortzonen sind bequem, doch aus der Komfortzone herauszukommen, führt letztlich zu emotionalem Wohlbefinden. Zuerst musst du allerdings durch den unbequemen Teil gehen.“ Carmen hat sich nach dem Seminar im Sommer 2019 ziemlich verändert. Bis dahin war sie sehr schüchtern – jetzt steht sie für ihre Überzeugungen und Ansichten ein und spricht auch darüber. Schon beim Rückflug aus Deutschland beschloss sie beispielsweise, zukünftig keinen Hijab mehr zu tragen, was sie bis dahin tat, weil ihre Familie sie darum gebeten hatte. Nach dem Seminar weigerte sie sich und konfrontierte ihre Familie damit.
Auch Zahra I.* erzählt von dem Wochenende: „Die Tatsache, dass wir aus unterschiedlichen Hintergründen und Blickwinkeln kommen, hat mich vor dem Treffen verunsichert. Ich habe mich noch nie vor einer Gruppe geöffnet, was das Treffen ebenfalls zu einer Herausforderung für mich machte. Ich bin froh, dass wir bei unseren Treffen eine gemeinsame Basis finden und  unsere Differenzen überwinden können.Deshalb treffe ich mich gerne mit der Gruppe und teile mehr mit, als ich es normalerweise tue.“
Vom Bewegungsworkshop hätte sie sich allerdings mehr erwartet: „Ich hatte hohe Erwartungen an diesen Workshop. Im Allgemeinen war er gut, aber er hat meine Erwartungen nicht erfüllt. Ich hätte mir mehr Bewegung gewünscht, um mich freier zu fühlen – und weniger Zeichnen.“

Auch Zahra I. veränderte sich durch das Seminar: Nun höre sie Anderen zu, spräche mit Menschen, die andere Ansichten vertreten und nimmt die Meinungen anderer ernster. Generell ist sie sehr streng mit sich selbst und mit anderen, in ihrer Art zu leben, aber auch in ihren Ansichten über die Gesellschaft. Während des Seminars 2019 hatte sie aus Angst vor Normalisierung kurzzeitig in Betracht gezogen, das Seminar abzubrechen, nun hingegen wünscht sie sich, dass zukünftig auch ihre jüngere Schwester an einem Dialogseminar teilnimmt.

Teilnehmer*innen beim Psychosozialen Workshop im März 2022

Rana K. berichtet, dass viele der Teilnehmer*innen sich mehr Tiefe von dem Bewegungsworkshop erhofft hatten: „Aber in Anbetracht der emotionalen Lage der Teilnehmenden wäre das nicht zu verantworten gewesen. Die Frauen* kamen zu dem Wochenende mit einer Menge Erwartungen. Sie waren auf der Suche nach dem einen ‚magischen‘ Workshop, nach dem sie sich besser fühlen würden. Sehr intensive Übungen zu machen, um tiefe Prozesse zu öffnen, die ich dann im Rahmen des Wochenendes nicht wieder auffangen hätten können, wäre jedoch unverantwortlich gewesen.“
Wie sich in der Reflektionsrunde nach dem Workshop am Abend zeigte, waren jedoch tiefere Prozesse in Gang gebracht worden als gedacht: „Am Samstagmorgen fingen wir an, über zu Zukunftsplanung zu reden. Im Hinblick auf gemeinsamen Aktivismus hatte ich einen Vortrag über den Kampf der Beduin*innen gegen Landbeschlagnahmung geplant, doch dies musste aufgeschoben werden. Alle waren sehr traurig und es wurde viel geweint“, erzählt Rana K. .
Kurzerhand wurde das Programm umgestaltet und der Rest des Tages dazu genutzt, die Teilnehmer*innen emotional aufzufangen und wiederaufzurichten, sodass doch die meisten der Teilnehmer*innen gestärkt aus dem Wochenende gehen konnten. Schließlich ist emotionale Sorgearbeit auch wichtiger Teil eines nachhaltigen Aktivismus.

Aus diesem Nachbereitungstreffen entstand der Wunsch, einen weiteren Wochendworkshop zum Thema psychosozialer Selbstfürsorge zu machen, der den Teilnehmer*innen Werkzeuge und Strategien an die Hand gibt, um selbst mit ihren Situationen emotional umzugehen und weitere Angebote und Informationen zu anderen Stellen liefert, an die Frauen* sich im bei Bedarf mit ihren Anliegen wenden können. Dieser Workshop fand Mitte März 2022 statt.